Alterswohnen mit Kita – Generationenhaus von Liechti Graf Zumsteg wird Bau des Jahres

Juho Nyberg, Manuel Pestalozzi, Susanna Koeberle, Elias Baumgarten
4. February 2021
Foto: Roland Bernath

Es ist eine unangenehme Frage, mit der sich niemand gern auseinandersetzt – was erwartet uns, wenn wir älter werden? Für viele heisst die Antwort wohl, so brutale es auch klingen mag, Einsamkeit. Sind die Kinder längst aus dem Haus, ist der Partner im schlimmsten Fall schon verstorben und nimmt die Mobilität infolge körperlicher Einschränkungen zusehends ab, bleiben Menschen oft allein zurück. Als wäre das nicht hart genug, kommt irgendwann die bange Frage hinzu, wie lange man den Alltag noch ohne fremde Hilfe meistern kann. Viele beginnen sich vor dem Moment zu fürchten, da sie ihre vertraute, oft über viele Jahre liebgewonnene Umgebung verlassen und in ein Altersheim zügeln müssen. Wie naheliegend wären da spezielle Wohnangebote, um Menschen einen Lebensabend zu ermöglichen, vor dem sie keine Angst haben müssen: Häuser und Siedlungen, in denen verschiedene Altersgruppen zusammenleben können. Inklusive kleinerer, hindernisfreier Wohnungen für ältere Personen, die dort bei Bedarf Zugang zu pflegerischer oder haushälterischer Unterstützung haben. Doch in unserem Land gibt es (noch) wenige solche Angebote – gerade in ländlicheren Gegenden. Logischerweise sind damit auch architektonische Vorbilder in dieser Kategorie Mangelware, und interessante Beispiele wie die Mehrgenerationensiedlung «Bergli» in Bülach von Michael Meier und Marius Hug (2017) werden neugierig untersucht. Unser Bau des Jahres ist ein etwas kleineres Beispiel-Bauwerk. Es ist seit 2019 in der Gemeinde Bad Zurzach nahe der Grenze zu Deutschland bezogen: das Generationenhaus der Emil-Burkhardt-Stiftung von Liechti Graf Zumsteg. Sie, unsere Leserinnen und Leser, haben der Anlage mit 96 Pflegebetten, 12 Alterswohnungen, grosszügigen Gemeinschaftsräumen, einem Restaurant und einer Kindertagesstätte durch Ihre Wahl zu dieser Auszeichnung verholfen. Und das offenkundig mit grosser Überzeugung: Noch nie durften wir uns über eine so hohe Wahlbeteiligung freuen, selten fiel ein Sieg so deutlich aus. 

Foto: Roland Bernath
Foto: Roland Bernath
«Wir stellten uns das Innere des Generationenhauses als kleine Stadt vor, wo es öffentliche Räume wie Strassen und Plätze, aber auch private Orte des Rückzuges gibt.»

Andreas Graf

Die betagten Bewohner*innen können das Haus zuweilen nur selten verlassen. Den Architekt*innen war daher wichtig, ihnen ein besonders erlebnisreiches, vielfältiges und behagliches keines Universum zu schaffen. Bereiche für die Gemeinschaft, zum Plaudern und Beisammensein, wechseln mit ruhigeren Zonen ab, die Wohnungen bilden intime Rückzugsorte. Eine Kindertagesstätte und ein Restaurant bringen Leben und Unbekümmertheit ins Haus. Durch seine mäandrierende Grundrissform spannt der Bau mehrere Höfe auf, die für unterschiedliche Nutzungen offenstehen. Überhaupt haben die Architekt*innen auch bei der Setzung Fingerspitzengefühl bewiesen: Mit seinem vielfältig gestaffelten Volumen und der feingliedrigen Holzfassade nimmt das Generationenhaus Bezug auf die Nachbarschaft, die in gleichem Masse durch beeindruckende historische Handelshäuser mit rückwärtigen Gartenhöfen, Mehrfamilienhäuser neueren Datums und die grossen Bauten des angrenzenden Bäderquartiers geprägt wird. Nördlich des Baus und gegenüber dem Verenamünster liegt nun ein baumbestandener Garten, der das historische Ortszentrum mit dem Kurpark, einem Werk des bedeutenden Zürcher Landschaftsarchitekten Dieter Kienast (1945–1998), verbindet.

Foto: Roland Bernath
Umgestaltung und Modulbau

Welches sind die nächstplatzierten Projekte, die unter den Bauten der Woche des Jahres 2020 bei Ihnen Zustimmung und Wohlgefallen auslösten? Auf Platz zwei rangiert der Umbau der historischen Zürcher Stadthalle zum Bürogebäude durch burkhalter sumi (inzwischen Oxid Architektur). Dem Entwurfsteam ist es hervorragend gelungen, dem Saalbau im Hinterhof, der Ende der 1940er-Jahre zur Parkgarage degradiert worden war, neues Leben einzuhauchen und seine einst brachial überformten architektonischen Qualitäten wieder zum Vorschein zu bringen. 

Rang drei geht an ein Mehrfamilienhaus mit 18 Wohnungen in Wald im Zürcher Oberland, das moos.giuliani.herrmann.architekten aus Betonmodulen zusammengesetzt haben. Die Wohneinheiten wurden – bereits vollkommen ausgebaut mit Bad, Küche und fertigen Oberflächen – auf dem Tieflader von der Fabrik zur Baustelle transportiert und dort mittels Kran in Position gehievt. Aktuell ist das Projekt einer von wenigen Modulbauten in der Schweiz – was sich in Zukunft vielleicht ändern könnte. So werden beispielsweise in China – freilich unter schwer vergleichbaren Vorzeichen – schon heute regelmässig Gebäude vom Wohnhaus bis zur Schule aus teils von Robotern montierten Modulen zusammengesetzt. Das hat uns die deutsche Architekten Binke Lenhardt voriges Jahr im Interview verraten.

burkhalter sumi, Umbau Stadthalle Zürich, 2019 (Foto: Heinz Unger)
moos.giuliani.herrmann.architekten, Mehrfamilienhaus in Modulbauweise, Wald, 2019 (Foto: Silvano Pedrett)

Zu Ihren beliebtesten Projekten gehört ferner die durchgrünte Wohnanlage «In den Bäumen» in Egg bei Zürich von Osterhage Riesen Architekten, der schlussendlich nur wenige Stimmen für einen Podiumsplatz fehlten. Auch der Umbau eines denkmalgeschützten Bauernhauses in Zürich für eine Wohngemeinschaft mit 14 Mitgliedern von Lukas Felder zählt zu Ihren fünf Lieblingen.

Osterhage Riesen Architekten, Wohnanlage «In den Bäumen», Egg, 2020 (Foto: Osterhage Riesen Architekten)
Lukas Felder, Umbau eines denkmalgeschützten Bauernhauses zum Wohnhaus für 14 Personen, Zürich, 2019 (Foto: Ariel Huber)
Der Umbau wurde im Auftrag der Stadt Zürich realisiert. (Foto: Ariel Huber)

Wir gratulieren den Architekt*innen der ersten drei Projekte, ihren Bauherrschaften sowie den beteiligten Expert*innen, Firmen und Handwerker*innen herzlich zu ihrem erfolgreichen Abschneiden. Wir freuen uns sehr über die Auszeichnung durch Sie für Liechti Graf Zumsteg und wünschen uns, dass ihr Generationenhaus weiteren Schwung in die Debatte um neue Wohnformen bringt. In einer alternden Gesellschaft, in der viele Lebensentwürfe und Familienmodelle nebeneinander existieren, wäre das sehr wichtig.


Auch in den Vereinigten Staaten, Österreich und Deutschland wählten unsere Leser*innen jeweils einen Bau des Jahres 2020. Folgende Projekte erhielten die meisten Stimmen:

Bau des Jahres 2020, American-Architects
JGMA, Esperanza Wellness Campus, Chicago

Bau des Jahres 2020, Austria-Architects
Snøhetta, Hauptsitz von ASI Reisen, Natters

Bau des Jahres 2020, German-Architects
Kresings, Raspberry Haus, Münster

Herzlichen Glückwunsch dem Siegerteam
 
Bauherrschaft
Emil-Burkhardt-Stiftung, Bad Zurzach

Architektur
Liechti Graf Zumsteg, Brugg
Mitarbeiter*innen: Tobias Bolt, Andreia Fernandes, Catherine Fischer, Céline Fust, Andreas Graf (verantwortlicher Partner), Kristina Graf-Ioveva, Daniel Grossen, Michael Huber, Raphael Haus (Projektleitung ab April 2016), Caroline Kagerbauer, João Leal, Peggy Liechti, Esther Mecksavanh (Projektleitung bis April 2016), Anke Olmes, Miriam Poch, David Sidler, Levin Türküm, Nicole Wasser, Anna Willim, Lucia Vettori und Lukas Zumsteg

Fachplaner 
Bauingenieur: HKP Bauingenieure, Baden
Elektroingenieur, Türengineering: R+B Engineering, Brugg
HLKS-Ingenieur: Abicht AG, Aarau
Landschaftsarchitektur: David & von Arx, Solothurn
Beleuchtungsplanung: Reflexion, Zürich
Bauphysik und Akustik: Porta, Brugg
Brandschutzplanung: Abicht AG, Zug
Holzbauingenieur: Makiol Wiederkehr, Beinwil am See
Innenarchitektur: Stefan Zwicky, Zürich
Signaletik: Neeser & Müller, Basel
Gastroplanung: GaPlan, Würenlingen

Generalunternehmer 
Birchmeier Baumanagement AG, Döttingen 

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