Bauen für Menschen – was sonst?

Manuel Pestalozzi
2. December 2021
Dr. Marie Glaser vom Wohnforum der ETH Zürich erklärte, welche gesellschaftlichen Veränderungen in der Planung künftig zu berücksichtigen sind. (Foto: Dyntar Photography)

In den letzten Tagen ist nahezu in der ganzen Schweiz Schnee gefallen. Der Winter bricht an – ein guter Moment, um innezuhalten und über das eigene Tun nachzudenken. Jedenfalls lieferten im November verschiedene Veranstaltungen inspirierende Inputs und wichtige Anregungen: Eine knappe Woche nach der ersten Jahrestagung der Stiftung Baukultur Schweiz bin ich nach Rotkreuz gefahren, um Neues über das «Bauen für Menschen» zu lernen. Und die Vorträge in der Innerschweiz waren eine interessante Ergänzung zu jenen in der Semper Aula der ETH Zürich. Der Hintergrund war derselbe: Wie soll angesichts der grossen Herausforderung, die in den nächsten Jahren zu meistern sind, geplant werden? Wie besagte Tagung in Zürich bot auch das Schweizer Bauforum die Möglichkeit, zurückzutreten, zu hinterfragen und eine neue Perspektive auf die Planung zu gewinnen.

Folgende Leitfragen standen dabei im Fokus: Was ist überhaupt «Gesundheit am Bau»? Wie funktioniert das menschenzentrierte Bauen? Worauf gilt es zu achten? Welche Qualitäten sind vorhanden? Die etwas verbraucht tönende Absichtserklärung «der Mensch steht im Mittelpunkt» war der Aufhänger der kurzen Einführung von Professor Dr. Markus Schmidiger, dem Studienleiter Immobilienmanagement am Institut für Finanzdienstleistungen der Hochschule Luzern (HSLU). Schmidiger nutzte die reflexartige, doch unausgesprochene Rückfrage «was denn sonst?» zu einer Kritik am Austragungsort des Bauforums, dem 2019 eingeweihten Campus Zug-Rotkreuz der HSLU: Bei dem Schlüsselbau des neuen Suurstoffi-Quartiers habe man die Belange der Mensch zu wenig berücksichtigt. Er sei ein Glashaus, dessen Rollos meistens heruntergefahren seien. Auch das Cateringpersonal werde von der Architektur schlecht behandelt. «Wo geht der Mensch verloren?», fragte Schmidiger rhetorisch in die Runde und stellte in Aussicht, dass nach den folgenden Referaten klarer sein werde, wo Defizite und Nachholbedarf bestünden.

Gute Stimmung herrscht schon vor Beginn der Veranstaltung, die Teilnehmenden tauschten sich rege aus. (Foto: Dyntar Photography)
Foto: Dyntar Photography
Vorträge fanden nicht nur im Audimax statt, sondern auch im Forumssaal. (Foto: Dyntar Photography)
Foto: Dyntar Photography
Details beeinflussen das grosse Ganze

Zehn Referent*innen wurden für den Nachmittag aufgeboten. Alle Vorträge hatten einen gemeinsamen Nenner: Sie zeigten auf, wo es harzt, und gaben Hinweise, wie sich die Situation verbessern liesse. Auch widmeten sich alle Sprecher*innen Details des Bau- und Planungsprozesses, bevor sie den Bogen zu grösseren Zusammenhängen spannten. Der Appell war deutlich: Auch vermeintliche Feinheiten, um die sich Spezialist*innen kümmern, müssen sorgsam im Auge behalten werden, denn sie haben Auswirkungen auf das grosse Ganze.

Christine Steiner Bächi ist ausgebildete Architektin, hat sich jedoch auf die Bauherrenberatung spezialisiert. Anhand von drei Beispielen – staatlichen Infrastrukturen und gemeinnützigen Institutionen – machte sie deutlich, dass die Beratung frühzeitig einsetzen sollte. Denn oft werde von ihren Klient*innen übersehen, dass Bedarf und Bedürfnisse nicht dasselbe sind. Besonders schmerzhaft und teuer ist das, wenn trotz noch ungeklärter Fragen bereits ein Architekturwettbewerb durchgeführt wird, der dann leider oft ein Resultat hervorbringt, das von den Nutzer*innen nicht angenommen wird, weil es ihre Bedürfnisse nicht ausreichend befriedigt. Mit frühzeitig durchgeführten Interviews und Workshops aber können teure Fiaskos vermeiden werden, so Steiner Bächi. 

Auch Dr. Marie Glaser vom Wohnforum der ETH Zürich widmete sich der Frage, wie man es besser machen und Planungsprozesse richtig ausgestalten könnte. Glaser ist studierte Kulturanthropologin und Literaturwissenschaftlerin. Im Fokus ihrer Forschungstätigkeit stehen die baulichen Folgen gesellschaftlicher Entwicklungen – also zum Beispiel des demographischen Wandels, der Pluralisierung der Lebensstile und der Ausdifferenzierung von Lebens- und Haushaltsformen. All dem werden viele zeitgenössische Wohnungsgrundrisse nicht gerecht. Hinzu kommt, dass von allen mehr Genügsamkeit verlangt ist, soll die Klimakrise gemeistert werden. Darum, so Glaser, benötigen wir neue Modelle des Zusammenlebens in hoher Dichte. Für vorbildlich hält sie die Sargfabrik in Wien, ein grosses, selbstverwaltetes und selbstinitiiertes Wohnprojekt, das den prognostizierten gesellschaftlichen Wandel räumlich wie auch ideell berücksichtigt. 

Roger Waeber vom BAG beim Vortrag; er plädierte für mehr Lüftungsanlagen. (Foto: Dyntar Photograph)
Foto: Dyntar Photography
Foto: Dyntar Photography
Nach den Referaten diskutierten die Teilnehmenden beim Apéro weiter. (Foto: Dyntar Photography)
Foto: Dyntar Photography

Mit Roger Waeber, dem Leiter der Fachstelle Wohngifte beim Bundesamt für Gesundheit, war auch ein Naturwissenschaftler unter den Referent*innen. Er widmete sich der Raumluftqualität, die jenseits von soziologischen und kulturellen Belangen die Befindlichkeit des Menschen wesentlich beeinflusst – und wegen der fortdauernden Pandemie gerade erhöhte Aufmerksamkeit erhält. Waeber ist der Ansicht, dass man dieses gesteigerte Interesse nutzen sollte, um neue Lüftungssysteme zu etablieren. Kompetentes Fachpersonal solle sich bei bestehenden Bauten über die Schadstoffbelastung und insbesondere über die Luftströmungen in Innenräumen ein Bild machen, meinte er, und dann nachhaltige Konzepte erarbeiten. Neben den sozialen seien auch die ökonomischen Auswirkungen von schlechter Raumluft zu beachten, denn diese reduziere unsere Leistungs- und die Lernfähigkeit.

Urban Vision 4D wird aktuell für die Erarbeitung der Bau- und Nutzungsordnung der Stadt Baden eingesetzt; die Oberstadt soll zu einer 10-Minuten-Nachbarschaft werden. Bebauungsvorschläge wurden bereits an einem öffentlichen Workshop diskutiert. Mit weiteren Anlässen soll die Beteiligung der Bevölkerung an der Planung noch intensiviert werden.

Die 10-Minuten-Nachbarschaft ist ein baukulturelles Konzept, das von der Gesellschaft unterstützt werden muss, wenn es sich durchsetzen soll. Deshalb wurde mit Walk 10 Min ein Verein gegründet, der die Idee verbreiten und weiter schärfen soll. Dies tut Not, denn die Entwicklung geht laut Sabrina Contratto aktuell leider in eine andere Richtung: In vielen Quartieren herrsche ein Verhältnis zwischen Beschäftigten und Ansässigen von 2:1 vor – nicht das angestrebte 1:2. Dafür sei die Belegungsdichte höher. Kurze Wege mögen also die Zukunft sein, doch soll diese Vision Realität werden, bleibt noch viel zu tun. Dieses Fazit lässt sich nicht nur für das abschliessende Referat, sondern für alle im Rahmen des Bauforums angesprochenen Themen ziehen.

Wann werden Innenräume zum Gesundheitsrisiko?

Nach einer Pause in der repräsentativen Wandelhalle des Campus-Gebäudes hatten die Teilnehmenden die Wahl zwischen mehreren parallel im Audimax und im ebenso eleganten Forumssaal gehaltenen Referaten. Zu gerne hätte man etwas über die «Prävention von muskuloskelettalen Erkrankungen dank baulichen Massnahmen» erfahren, doch gleichzeitig wurde Input zum Generalthema «Gebäude gesünder machen» versprochen. Es sprach Oliver Zimmermann, der CEO der Condair Group. Sein Vortrag rechtfertigte den Verbleib im Audimax vollständig, zumal er inhaltlich bei den zuvor gehörten Ausführungen von Roger Waeber anschloss. Dabei taten sich interessante Widersprüche auf.

Wie bei Roger Waeber ging es auch Oliver Zimmermann grundsätzlich um das Innenraumklima, das künstlich erzeugt und reguliert werden muss. In unseren Breiten halten sich Menschen während 80 bis 90 Prozent ihres Lebens in Innenräumen auf, diese Tatsache ist nicht nur in technischer, sondern auch in kultureller Hinsicht eine grosse Herausforderung. Der lange Aufenthalt in Räumen mit vorbestimmter Feuchtigkeit und Temperatur macht Menschen empfindlich – auch gegenüber Bakterien oder Viren. Das habe viel zu tun mit unserer gängigen Vorstellung von Hygiene, erklärte Zimmermann. Bauernkinder, die sich viel draussen aufhalten, seien generell von robusterer Gesundheit als Stadtkinder. Gerade dichte Gebäudehüllen und eine mechanische Lüftung führten zu einer unvorteilhaften Selektion unter den Krankheitserregern. Die Gefahr, zu erkranken, steige darum im Innenraum. 

Ein besonderes Augenmerk legte der Wirtschaftsvertreter auf die relative Luftfeuchtigkeit in Innenräumen. Diese sinke während der Heizperiode auf nur noch 14 Prozent ab. Wer Primaten in Gehegen halte, sei verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die relative Luftfeuchtigkeit niemals unter 45 Prozent liege, mahnte Zimmermann. Mit anderen Worten: Drinnen ist es oft zu trocken, was der menschlichen Gesundheit in vielerlei Hinsicht schadet. An dieser Stelle beginnt Zimmermanns Position im Widerspruch zu Waebers zu stehen, denn erster sieht mechanische Lüftungsanlagen kritisch. Das Dilemma: In Gebäuden ist Feuchtigkeit unerwünscht, weil sonst Schäden an der Bausubstanz drohen, Menschen hingegen benötigen eine relative Luftfeuchtigkeit zwischen 40 und 60 Prozent. Die Lösung besteht in einer besseren Konditionierung der Innenraumluft. Oliver Zimmermann empfiehlt anders als Waeber dezentrale Einzelraumlüftungen. Als Positivbeispiel präsentierte er das 2226-Konzept von Baumschlager Eberle, das ohne mechanische Lüftung auskommt. Generell könne man die Devise ausgeben: Raumtemperatur runter oder Luft befeuchten, wie es früher mit kleinen Wasserbehältern gemacht wurde, die man an die Radiatoren hängte.

Foto: Dyntar Photography
Die 10-Minuten-Nachbarschaft – der Traum von einer Schweiz ohne Pendlerverkehr

Das abschliessende Referat vereinte die Teilnehmenden wieder und führte aus dem Gebäudeinneren nach draussen in den Siedlungsraum. Bei dessen künftiger Planung sind neue Ansätze gefragt. Sabrina Contratto liefert dazu einen interessanten Vorschlag. Nachdem sie als Architektin für Baumschlager Eberle gearbeitet hatte, gründete sie vor drei Jahren das Unternehmen Cont-S, das innovative Strategien für Städte und Unternehmen entwickelt. Eine davon nennt sich Urban Vision 4D. Wissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch partizipative Prozesse werden dabei genutzt, um eine qualitätsvolle und nachhaltige Siedlungsentwicklung zu erreichen. Doch warum ist das nötig? Contratto sieht eklatante Schwächen in der Schweizer Raumplanung der vergangenen 60 Jahre. Es werde hierzulande, sagt sie, an den falschen Orten gebaut, was zu hohen Pendlerkosten und zu grossen finanziellen Verlusten bei privaten und öffentlichen Investitionen führe. Sabrina Contratto würde der Schweizer Raumplanung nur die Note 4 geben.

Urban Vision 4D wurde als Alternative zu den Sonderbauvorschriften konzipiert, welche die aktuelle Raumplanung notwendig macht. Sie kosten viel Geld, gewähren jedoch keine befriedigende Planungssicherheit und beinhalten das Risiko eines wenig koordinierten Nebeneinanders von Entwicklungsgebieten. Hauptziel von Urban Vision 4D ist die Erhöhung baulicher Dichte und die Vermeidung von Pendlerverkehr. Geschaffen werden sollen sogenannte 10-Minuten-Nachbarschaften, in denen alle wichtigen Einrichtungen und die öV-Anschlüsse innert eben dieser Zeit zu Fuss erreichbar sind. Denn die meisten Menschen sind heute nicht mehr bereit, länger als wenige Minuten zu laufen. Entwickelt wurde das Konzept von einem Team, zu dem neben Sabrina Contratto auch Dr. Sibylle Wälty gehört, eine Architektin, die sich in Immobilienmanagement und Raumplanung weitergebildet hat und als wissenschaftliche Projektleiterin für das Wohnforum der ETH Zürich tätig ist. 

Es wurden verschiedene digitale Tools programmiert, um die Idee der 10-Minuten-Nachbarschaft zu visualisieren. Sie ermöglichen beispielsweise das Erzeugen von Variantenmodellen, die auch Laien schnell verstehen und die ihnen die Angst vor grosser Dichte nehmen sollen. Eine 10-Minuten-Nachbarschaft braucht für eine genügende Nutzungsdichte mindestens 10000 Einwohner*innen und ein Verhältnis zwischen Beschäftigten und Ansässigen von 1:2.

Sabrina Contratto präsentierte die Vision der 10-Minuten-Nachbarschaft. (Foto: Dyntar Photography)

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