«Es braucht emotional geladene Bauten. Sie bringen einen Mehrwert für die Allgemeinheit!»

Elias Baumgarten
9. April 2020
Illustration: World-Architects.com

Elias Baumgarten Wegen der Corona-Pandemie sind wir alle zu Hause, die Bewegungsfreiheit ist auf ein Minimum reduziert. Auch für Architekturjournalist*innen eine neue Situation: Gebäude können nicht mehr besichtigt werden, Museen und Galerien sind geschlossen. Interviews sind nur noch virtuell möglich. Uns haben diese Einschränkungen auf eine Idee gebracht: In den nächsten Wochen möchten wir mit Architekt*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auf Skype über ihre Arbeit und Haltung sprechen. 
Ich möchte wissen, wie ihr über Baukultur und Architekturqualität im D-A-CH-Raum denkt. Zum Einstieg lasst uns über einen Themenkomplex sprechen, der bis eben den politischen Diskurs bestimmte und sich künftig stark auf die Gestaltung auswirken dürfte: Nachhaltigkeit und Klimaschutz.

Max Otto Zitzelsberger: In Deutschland sind viele Bauherr*innen technikaffin. Für sie muss sich Nachhaltigkeit vor allem messen lassen. Sie interessieren sich für Dämmwerte, Haustechnik und sogenannte Smart Home Systeme.
Dieser Fokus auf hochtechnisierte Lösungen gefällt mir nicht. Für ressourcenschonendes Bauen braucht es ein starkes Handwerk vor Ort. Und in Bayern wie in ganz Deutschland ist dieses schon fast tot. Ich bin für regionale Wertschöpfung und kurze Wege. Ich möchte, dass einheimisches Holz verbaut wird, keine Fichte aus Finnland. Ich habe zum Beispiel vor einigen Jahren eine historische Scheune in Kneiting bei Regensburg mit einer neuen Fassade versehen. Das Holz stammte aus dem nahen Wald. Die Bauern des Dorfes haben es gemeinsam geschlagen, verarbeitet wurde es im örtlichen Sägewerk.

Lilitt Bollinger: Wenn sich deutsche Bauherr*innen tatsächlich grundsätzlich für Nachhaltigkeit interessieren, kann man sich dort trotzdem schon glücklich schätzen. In der Schweiz ist die Nachfrage nach ökologisch besonders sinnvollen Lösungen noch nicht allzu gross. Räumliche Wünsche und Bedürfnisse, aber auch wirtschaftliche Zwänge sind eher im Fokus. Bei uns ist wichtig, Überzeugungsarbeit zu leisten und unermüdlich auf qualitätsvolle Architektur hinzuwirken. Man muss dafür werben, dass gute Gestaltung einen besonderen Wert darstellt und es sich langfristig auszahlt, in sie zu investieren – auch bezüglich der Nachhaltigkeit.

Stefan Marte: In Vorarlberg ist nachhaltiges Bauen schon viele Jahrzehnte Thema. So sehr, dass es mich mittlerweile fast langweilt. Wir sehen das ähnlich wie du, Lilitt: Für uns kommen Raumkompositionen, Atmosphären, Lichtsituationen und dergleichen noch immer an erster Stelle. Es geht darum, qualitätsvolle Architektur so umweltschonend wie möglich zu verwirklichen. Die nachhaltigsten Bauten sind noch immer diejenigen, die über Generationen gehegt und gepflegt werden – es bedarf nicht zwingend dicker Dämmung und energetischer Optimierung bis aufs Letzte. Bisweilen macht uns diese Haltung zu regelrechten Outlaws im eigenen Land. Wo es richtig scheint, bauen wir nämlich beispielsweise weiter in Beton, statt unreflektiert dem Trend zum Holzbau zu folgen.
Und was die regionale Wertschöpfung angeht, die du angesprochen hast, Max: In Vorarlberg gibt es ambitionierte Bauherr*innen, die das mit grossem Idealismus aktiv einfordern. Auch herausragende Handwerker*innen haben wir. Bei kleineren Bauvorhaben ist mit dieser Kombination vieles möglich. Aber zugleich darf man sich nichts vormachen: Gerade bei grossen Projekten führt der Kostenfaktor schnell dazu, dass man doch Aufträge ins Ausland vergibt oder Material von dort beschafft.

lilitt bollinger studio, Wohnatelierhaus «Altes Weinlager», Nuglar, 2019 (Foto: Mark Niedermann)
Foto: Mark Niedermann
Foto: Mark Niedermann

EB: Es herrscht ja heute generell die Haltung vor, im Zweifel lieber im Ausland produzieren zu lassen und einzukaufen, sobald sich dadurch auch nur minim sparen lässt. Vielleicht führt die Corona-Krise beim einen oder anderen zu einem Umdenken – zumindest würde ich mir das wünschen. Schliesslich zeigt die Knappheit an medizinischen Gerätschaften und Material überall in Europa beispielhaft, wohin diese Mentalität führt.
Doch zurück zur Architektur: Ein wichtiger Beitrag zu einem vernünftigeren und weitsichtigeren Umgang mit Ressourcen scheint mir, lieber Gebäude umzubauen, als sie zu ersetzen. Lilitt, in deinem Portfolio sind einige grossartige Umgestaltungen alter Bauten versammelt, die wohl so mancher vormals nicht als erhaltenswert eingestuft hätte. 

LB: Das hat zuerst mit meiner Akquisestrategie zu tun: Mein Büro ist klein und ich nehme nicht an Wettbewerben teil. Da ist naheliegend, sich viel mit Um- und Ausbauten zu beschäftigen. Aber es stimmt: In der Baubranche herrscht immer noch eine Wegwerfmentalität vor, von der wir loskommen müssen. Besser wäre, alte Bauten möglichst lang zu behalten und nötigenfalls immer wieder anzupassen. Schön, haben wir in der Schweiz einige Architekt*innen, die sich dem mit grossem Eifer annehmen und tolle Lösungen finden. Und nebenbei bemerkt: Die Arbeit mit alter Substanz ist auch entwerferisch besonders reizvoll.
Eines ist aber noch wichtig, das haben wir bisher nicht angesprochen: Die Normen sind zu streng! Oft stehen sie besseren, innovativeren Lösungen im Weg.

SM: Das stimmt zu 100 Prozent, das kann ich voll unterschreiben! Wobei ich allerdings glaube, dass man diesbezüglich in der Schweiz mehr Augenmass walten lässt als bei uns in Österreich oder gar in Deutschland. Das haben wir zum Beispiel im Krankenhausbau gelernt. Wir brauchen dringend mehr Freiheit zum Experimentieren!

Marte.Marte Architekten, Kunstprojekt «Masellahütte», Dafins, 2018–2019 (Foto © Marte.Marte Architekten)
Foto © Marte.Marte Architekten
Foto © Marte.Marte Architekten

MOZ: Also ich bin unsicher, ob wir Architekt*innen uns nicht zu viel beklagen – gerade in Deutschland. Mich ärgert, wenn ich höre, «ach, in Vorarlberg oder der Schweiz ist es einfach, da könnte ich auch gute Architektur machen». Das ist doch eine Opferhaltung. Ich möchte eine kurze Geschichte erzählen: In der Süddeutschen Zeitung habe ich ein Interview von Laura Weissmüller mit Jan De Vylder gelesen. Sie behauptet darin, Projekte wie sein Umbau einer Ruine zur Psychiatrie in Melle bei Gent seien in Deutschland wegen der strengen Normen und Bestimmungen unmöglich. De Vylder erwiderte ihr, sie seien das eigentlich auch in Belgien. Da mag er kokettiert haben, wahrscheinlich ist aber mehr möglich, als wir oft glauben.

SM: Also die Verfassung der Baukultur in Deutschland liegt ganz bestimmt nicht an den deutschen Architekt*innen! Ihre Wettbewerbsbeiträge sind Weltklasse. Wir haben gerade ein Projekt in Berlin abgeschlossen. Über bald zehn Jahre lernten wir in endlosen Besprechungen, woran es in Wahrheit krankt. Die Umsetzung war ein fortwährendes Anrennen gegen Windmühlen – mehr ein Gegeneinander anstatt eines Miteinanders. Besonders in den Anfängen waren wir wieder und wieder mit Negativität und Misstrauen konfrontiert. Es gab mehr als einen Projektverhinderer, und wir bekamen bei der Projektentwicklung nur sehr wenig Unterstützung.

LB: Du sprichst pauschal von Negativität und Projektverhinderern. Wie meinst du das?

SM: Die Bürokratie ist in Deutschland sehr ausgeprägt, die Gremien sind gross und die Hierarchien stark. Die Wünsche und Ambitionen der Politiker*innen stehen mitunter im Widerspruch zur Haltung der Beamten und Entscheider auf den tieferen Ebenen. Viele der Beteiligten wollen nur ihre Ruhe und halten sich strikt an Regeln und Bestimmungen, statt im Sinne des Gesamtprojekts zu denken. Bei jedem Detail muss man um qualitätsvolle Lösungen zäh kämpfen. Das macht mürbe und verwässert das Potenzial vieler toller Projekte.
Allerdings: Das soll nicht heissen, dass es in Deutschland gar keine ambitionierten Bauherrschaften gibt und qualitätsvolle Architektur völlig verunmöglicht wird. Wir arbeiten derzeit an mehreren Projekten in Deutschland – in Darmstadt, Badenweiler und Lindau –, dort sieht es schon ganz anders aus.

MOZ: Aber ist nicht auch Wien zum Beispiel ein schwieriges Pflaster für anspruchsvolle Architektur?

SM: Du hast recht, man tut sich in Wien schwerer als in Vorarlberg oder Tirol. Gute Handwerker*innen zum Beispiel findet man dort kaum und muss sie aus anderen Landesteilen «importieren». Dennoch: Im Vergleich ist Wien ein Ponyhof.

Max Otto Zitzelsberger, Bushaltestelle, Landshut, 2017 (Foto: Sebastian Schels)
Foto: Sebastian Schels
Foto: Sebastian Schels

EB: Ich bin der Meinung, dass man für eine hochstehende Baukultur überall fortgesetzt kämpfen muss.

SM: Selbst in Vorarlberg! Ich engagiere mich seit vielen Jahren als Obmann des Vorarlberger Architektur Instituts (vai). Unsere Arbeit ist Vermittlung, Vermittlung und nochmals Vermittlung. Zwar haben wir in Vorarlberg ein hohes Niveau erreicht, doch Baukultur bröckelt und degeneriert, sobald man sich nicht ständig für sie einsetzt. Wir sehen zum Beispiel, dass man für die enge Zusammenarbeit von Handwerker*innen und Architekt*innen, die Vorarlberg heute auszeichnet, immer wieder neu werben muss. Viele ruhen sich schnell auf dem Erreichten aus…

MOZ: Baukultur – was ist das eigentlich? Ist das nicht ein schwammiger Begriff, der alles und nichts meint? Ein grausiges Einfamilienhaus, das die Bauherrschaft aus tiefster Überzeugung so wollte, ist ein starkes Statement – genau wie ein schöner Bau von Marte.Marte oder Lilitt Bollinger. Ist nicht beides Baukultur?

LB: Baukultur hat mit Liebe zu tun! Es kommt nicht darauf an, wer etwas gestaltet hat oder wie es aussieht. Vieles wird aber einfach «hingeschmissen», ist nicht durchdacht, lieblos und ohne Wert. Ich kenne Beispiele, da sind Fertighäuser so unüberlegt auf dem Grundstück platziert, dass alle Fenster nach Norden gehen. Das ist einfach stupide. Es geht weniger darum, für Ästhetik zu kämpfen als vielmehr gegen Ignoranz und emotionale Kälte.

SM: Natürlich hat die Mehrheit wenig Verständnis für gute Architektur. Ich möchte auch nicht dahingehend missverstanden werden, dass jedes Gebäude höchsten gestalterischen Ansprüchen genügen muss. Aber es braucht, da stimme ich Lilitt zu, emotional geladene Bauten. Sie bringen einen Mehrwert für die Allgemeinheit! Und darauf soll und kann man hinwirken. Das vai veröffentlicht deshalb zum Beispiel regelmässig Artikel über Architektur in allgemein verständlicher Sprache in der Vorarlberger Tagespresse.

Lilitt Bollinger studierte an der ETH Zürich Architektur. 2013 gründete sie lilitt bollinger studio in Basel, später verlegte sie den Bürositz nach Nuglar. 2019 gewann sie die Auszeichnung «Goldener Hase» für das Wohnatelierhaus «Altes Weinlager» in Nuglar.
 
Stefan Marte ging zur HTL Rankweil und studierte an der Universität Innsbruck Architektur. 1993 gründete er ein gemeinsames Büro mit seinem Bruder Bernhard in Weiler. 1999 bis 2005 war er Vorstandsmitglied der Zentralvereinigung der Architekten Vorarlbergs. Seit 2005 ist er Präsident des Vorarlberger Architektur Instituts (vai).
 
Max Otto Zitzelsberger studierte Architektur an der TU München. 2010 bis 2017 war er dort Akademischer Rat am Lehrstuhl von Florian Nagler. 2011 gründete er ein eigenes Büro in München. Er ist als Juror tätig und hat seit 2019 eine Juniorprofessur an der TU Kaiserslautern inne. 

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