Zürcher Backstein-Boom

Manuel Pestalozzi
29. April 2021
Der Chemiebau der ETH Zürich an der Universitätsstrasse markierte einst den Beginn des Backstein-Booms in der Stadt. (Foto © Institut für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich)

Die Reformation hat Zürich kulturell stark geprägt: Die Gläubigen wurden gemahnt, sich auf das Echte, Wahre und Unverfälschte zu konzentrieren. Sie sollten sich nicht von unnötigem Tand und Blendwerk den Kopf verdrehen lassen. Es scheint, als habe dies auch Auswirkungen auf die Gestaltung von Bauwerken gehabt. Jedenfalls sind alte Häuser in der Stadt nicht für überschwängliche Verzierungen bekannt. Die noch vorhandenen Bauten aus dem Barock etwa sind von eher zurückhaltender und bescheidener Ästhetik.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch veränderte sich der Zeitgeist. Das rasche Bevölkerungswachstum und vor allem die Zuwanderung – nicht zuletzt aus katholisch geprägten Gegenden – sowie die erste Eingemeindung im Jahr 1893 veränderten das Wesen und den Charakter der Stadt. In dieser Zeit wurden Wohnhäuser gerne mit Sichtbacksteinflächen und -ornamenten geschmückt. Bauwerke und Bauweisen jener Zeit dokumentiert das neue Buch «Backsteinstadt Zürich. Der Sichtbackstein-Boom zwischen 1883 und 1914». Die Autoren sind Wilko Potgeter, ein Architekt, der auf dem Gebiet der Bauforschung und der Konstruktionsgeschichte tätig ist, und Stefan M. Holzer, ein Bauingenieur und Bautechnikforscher. Sie befassten sich am Institut für Denkmalpflege und Bauforschung (IDB) der ETH Zürich im Jahr 2018 mit dem Thema. Die Ergebnisse sind nun in graphisch anspruchsvoller Form in dem reich illustrierten Buch zusammengefasst.

Klare Linien, saubere Fugenbilder und erhabene Formzitate werden heute zuweilen als Manifestation einer neuen Idee von Hygiene gedeutet. Dieser Block an der Forchstrasse 130–138 wurden 1897 fertiggestellt und 1971 mehrheitlich abgebrochen. (Foto: Friedrich Ruef-Hirt © Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich)
Bautechnisches Neuland

Die Autoren widmen sich ausführlich dem wachsenden Interesse an sichtbar belassenen Ziegelwänden. Sie schreiben dem deutschen Architekten Karl Friedrich Schinkel eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Bauweise zu. So habe beispielsweise dessen zwischen 1832 und 1836 realisierte Bauakademie in Berlin sehr zu deren wachsender Beliebtheit beigetragen. Interessanterweise gestaltete Gustav Albert Wegmann in Zürich die Kantonsschule (1839–1842) nach dem Vorbild der Bauakademie – allerdings noch ohne Oberflächen aus Backstein und mit nur wenigen Zierelementen aus Terracotta. Ehe der Zürcher Backstein-Boom wirklich einsetzte, fand zunächst eine Modernisierung der Herstellung der Steine statt. Auch wurde der Aufbau des Mauerwerks vereinheitlicht. Das Buch von Potgeter und Holzer zeichnet diese technische Entwicklung nach.

Doch wie kam es, dass der Baubestand aus der Gründerzeit in Zürich «so stark von Verblendsteinfassaden geprägt war, wie in kaum einer anderen deutschsprachigen Stadt»? Die Autoren zeichnen in einem Kapitel die Geschichte der «Angebotsseite» nach: Ziegeleien gab es in der Stadt schon seit dem 14. Jahrhundert, Lehm stand in der Region genügend zur Verfügung. Die Ziegelhütten produzierten allerdings hauptsächlich Dacheindeckungen. Ab 1850 entstanden rund um die Stadt mechanische Backsteinfabriken, und auch eine Tonwarenfabrik nahm die Produktion auf. Der Durchbruch erfolgte schliesslich an der Schweizerischen Landesausstellung, die 1883 auf dem Platzspitz stattfand: Die Architekten Chiodera & Tschudy erstellten einen Pavillon mit Sichtmauerwerk, mit dem das keramische Gewerbe für seine Produkte warb. Wenig später entwarf der in Deutschland ausgebildete Georg Lasius gemeinsam mit Friedrich Bluntschli für die ETH an der Universitätsstrasse den Chemiebau. Das Backsteingebäude, bei dem die farbliche Differenzierung der Steine für eine zurückhaltende Ornamentik sorgte, war ein Meilenstein. Obwohl beide Bauwerke zu ihrer Entstehungszeit durchaus auf Kritik stiessen, gelang es den Backstein-Anbietern in der Folge, vom ab Mitte der 1880er-Jahre einsetzenden Bauboom immens zu profitieren. Die florierende Baubranche bezog in grossen Mengen die Erzeugnisse der lokalen Ziegel- und Keramikindustrie. «Die Begeisterung für deren Angebote ging so weit, dass bis zu einhundert Gebäude pro Jahr backsteinseitig ausgeführt wurden», schreiben die Autoren. Sie zählen in Zürich insgesamt 1250 Gebäude mit Backsteinfassaden. Achtzig Prozent von ihnen stammen aus der kurzen Boomphase zwischen 1883 und 1914. Die meisten stehen in den Quartieren Alt-Wiedikon, Hottingen und Sihlfeld. Eine gänzlich befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Grund der plötzlichen Popularität der Bauweise geben diese Informationen nicht – dafür müsste man wohl Historiker*innen zu Rate ziehen.

Langlochverblender verzahnen sich bei dieser Fassade an der Zelgstrasse 2 aus dem Jahr 1896 mit dem dahinter liegenden Mauerwerk. (Foto © Institut für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich)
Vokabular und Grammatik

Ein ausführliches Kapitel ist den gestalterischen und handwerklichen Elementen der Backsteinarchitektur der Gründerzeit gewidmet. Man erfährt zum Beispiel, dass die Wandaufbauten auf vollformatigen Hochlochziegeln im Schweizer Normalmass von 25 x 12 x 6 Zentimetern basierten. Zu diesem «Basismodul» gesellten sich mit der fortschreitenden technischen Entwicklung der Langlochverblender mit horizontalen Löchern und schliesslich die Plättchen aus gebranntem Ton, die sich nicht mehr analog zum Langlochverblender mit dem tragenden Mauerwerk verzahnten – Vorfahren der heute gängigen Riemchen also. Besonders beliebt waren Ockertöne. Bei der Verblendung wurden anfänglich oft deutsche Produkte verwendet, grossen Zuspruch fanden zum Beispiel die Frankfurter Verblendsteine, welche Schweizer Unternehmen über die Zeit in ihr Angebot aufnahmen.

Auch bei den Wandaufbauten vollzog sich eine Evolution. Mitte der 1880er-Jahre kam es noch vor, dass die Sichtbacksteine einer Bruchsteinmauer vorgeblendet wurden. Fugenbilder aus jener Zeit zeigen Block- oder Kreuzverbände, am häufigsten ist allerdings der reine Binderverband anzutreffen. Oftmals ist überdies auch der Gotische Verband vertreten, bei dem die äussere Schale sich mit einem inneren Gussmauerwerk verzahnt. Die Konstruktionsvarianten werden im Buch mit zahlreichen Fotografien und schematischen Schnitten dokumentiert. Parallel dazu zeigen aktuelle und historische Aufnahmen die jeweilige Gesamtwirkung mit den Fenstergewänden zwischen den häufig mit Naturstein verblendeten Sockelbereichen und der Traufe.

Neben den «seriellen» Modulsteinen stand auch ein ganzes Repertoire von Formsteinen und Schmuckelementen zur Verfügung. Deren Formen waren der nordeuropäischen Backsteingotik entlehnt. Auch bei diesen Spezialelementen handelte es sich natürlich um Massenware, sie waren Bestandteile eines «Baukastens», welche die Fantasie gleichzeitig beflügeln und einschränken konnten. Auch bezüglich dieser Steine geht das Buch detailliert auf die technischen Hintergründe ein.

Die Häuser an der Weinbergstrasse 103–105 aus dem Jahr 1896 zeigen eine polychrome Backsteinfassaden. Auffällig sind die Zierbögen über den Fenstern. (Foto © Institut für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich)
KIeidung und Repräsentation

Das Buch zeigt eindrücklich, wie sehr die Backsteinbauten Zürichs Quartiere noch heute prägen. Zahlreiche Strassenzüge aus der Gründerzeit sind gut erhalten. Mit dem Ersten Weltkrieg endete der Sichtbackstein-Boom abrupt. Erst ab den späteren 1970er-Jahren tauchten in Zürich wieder Neubauten mit äusseren Schalen in Backstein auf. Die Verblendung von Wärmedämmverbundfassaden mit Keramik- oder Terracottaplatten in jüngerer Zeit scheint in diesem Kontext ein spätes Echo der Gründerzeit zu sein. 

Auf mögliche soziokulturelle Gründe für die Anwendung der repräsentativen Bautechnik geht das Buch leider nicht ein. Umso mehr beflügelt es die Fantasie der historisch interessierten Leser*innen. Die Themen Bekleidung, Prestige und Vermarktung müssen damals für den Einsatz von Backsteinen gesprochen haben. Zudem brachte diese Bauart «das Neue» und mithin den technischen Fortschritt zum Ausdruck. Dass sie mehr als eine Vorblendung oder gar Verblendung war, deutet die robuste Nachhaltigkeit vieler dieser Fassaden. Noch heute wirken sie frisch und unverbraucht.

Backsteinstadt Zürich. Der Sichtbackstein-Boom zwischen 1883 und 1914

Backsteinstadt Zürich. Der Sichtbackstein-Boom zwischen 1883 und 1914
Wilko Potgeter und Stefan M. Holzer

170 x 240 Millimeter
208 Pages
212 Illustrations
Gebunden
ISBN 9783038602316
Park Books
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Ein Wiederaufleben des Bauens mit Backsteinen könnten die Fortschritte in der Robotik mit sich bringen, die in der letzten Dekade erzielt wurden. Durch Roboter gemauerte und geometrisch besonders anspruchsvolle Ziegelwände wurden beispielsweise durch Gramazio & Kohler schon realisiert.

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