Lebendige Dichte

Inge Beckel
17. April 2014
Die Gartenstadt Puchenau von Architekt Roland Rainers. Bild: Müry Salzmann Verlag

Rückzug erlaubt!
Die Gartenstadt Puchenau, erbaut im gleichnamigen Puchenau bei Linz in Oberösterreich, wurde in drei Etappen zwischen 1963 und 2000 realisiert. Leitgedanke Roland Rainers (1910–2004), österreichischer Architekt und Städtebauer, dabei war – unter architektonischen Gesichtspunkten – der verdichtete Flachbau. Auf Parzellen, die zwischen 105 und 270 Quadratmeter gross sind, entstanden Wohnbauten mit Flächen zwischen 53 und 130 Quadratmetern. Diese gruppieren sich je um geschlossene, private Innenhöfe. Abschnitte der Innenhöfe, die nicht durch Wohnungswände begrenzt sind, werden von 1,80 Meter hohen Mauern definiert. Auch die öffentlichen Bereiche mit den Wegen und Zugängen zu den Häusern sind von den Mauern der Häuser bestimmt, wirken aber wegen der eingeschossigen, flachen Bebauung dennoch sehr offen.

Rückzugsmöglichkeiten würden den Willen zum sozialen Austausch erhöhen, war Roland Rainer überzeugt, wie seine Tochter Johanna im Film berichtet. Ebenso wichtig sei ihrem Vater gewesen, dass alle Wohnungen einen direkten Bezug zum Aussenraum und zum Grün der Natur haben. Damit lassen sich sowohl die Jahreszeiten hautnah erleben als auch Rückzugs- und Erholungsorte haben, die wiederum Neugier und Offenheit wecken, um sich mit Freunden und Nachbarn bei Festen zu treffen, zu feiern und auszutauschen. Interessant ist eine im Film erwähnte Untersuchung, die der Frage nachging, wieviel Prozent der Einwohner unterschiedlicher Linzer Siedlungen ihre Wochenenden zu Hause verbringen. Dabei zeigte sich, dass jene von Puchenau zu 73 Prozent zu Hause bleiben, während es in einer Hochhaussiedlung nur 23 Prozent sind. Dass dies aber nicht von der Höhe der Häuser abhängt, zeigt das nächste Beispiel.

Der Wohnpark Wohnpark Alt Erlaa der Arge um Harry Glück. Bild: Müry Salzmann Verlag

Jedem sein Gärtchen
Der Wohnpark Alt Erlaa im Süden Wiens aus den 1970er-Jahren besteht aus mehreren Scheibenhochhäusern, die sich ab rund der Hälfte der Gebäudehöhe zu gegen unten ausgreifenden Terrassenbauten verbreitern. Die Siedlung beherbergt rund 10'000 Einwohner und Einwohnerinnen und ist weitgehend verkehrsfrei. Erbaut wurde die Anlage von einer Arbeitsgemeinschaft um Harry Glück (*1925). Konkret handelt es sich um drei 400 Meter lange Zeilen in Nordsüd-Ausrichtung mit Höhen zwischen 23 und 27 Stockwerken, die insgesamt 35 unterschiedliche Wohnungstypen aufnehmen. Auf dem Gelände finden sich weiter zahlreiche Gemeinschaftseinrichtungen wie beispielsweise grössere Schwimmbäder auf Hausdächern, die in der warmen Jahreszeit rege genutzt werden, wie der Film zeigt. Mit Puchenau vergleichbar erzielte Alt Erlaa bei einer Wiener Befragung zur Bewohnerzufriedenheit das höchstmögliche Rating.

Auch ein Shopping-Center gehört zum nahen Umfeld, was das Gefühl einer Art Stadt in der Stadt evoziert. Und wie eine Stadt wird Art Erlaa von einer grossen gesellschaftlichen Durchmischung geprägt. So berichtet eine Bewohnerin, sie hätten, als die Patchworkfamilie gewachsen sei, einfach eine nahe Wohnung dazugemietet. Und seit noch die Oma zu ihnen gestosssen sei, hätten sie nunmehr drei Wohnungen gemietet. Das sei praktisch, ein Sohn lebe mehrheitlich bei der Oma, mit der er sich sehr gut verstehe. Wichtig ist der Frau auch der rund fünf Quadratmeter grosse eigene Garten auf dem privaten Balkon. Hier duften der Rosmarin und Salbei, etwas Grünes hängt von der Balkonoberkante. Blinzelt man hier an einem heissen Sommertag also durch die leicht geschlossenen Augenlieder, könnte man sich an einem Ort mit üppiger Vegetation irgendwo im Süden wähnen.

Die Siedlung Guglmugl von Architekt Fritz Matzinger. Bild: Müry Salzmann Verlag

Gemeinschaftsräume inklusive
Die Siedlung Guglmugl in Linz wurde zwischen 1998 und 2000 erbaut, Architekt war Fritz Matzinger (*1941). Das Grundstück sei schwierig zu beplanen gewesen, meint dieser im Film, doch sei es zentrumsnah gelegen und somit attraktiv, besonders auch für Menschen ohne Auto. Gebaut hat Matzinger Atriumshäuser, die sich als Zeilenbauten einen Hang hinauf entwickeln, die einzelnen Häuserschnitze sind zwischen vier und sieben Meter breit. Während bei einem üblichen Einfamilienhausquartier rund 20 Prozent des Bodens der Erschliessung dienten, so Matzinger, beanspruchte diese in Guglmugl nur vier Prozent.

Wichtig waren ihm die Gemeinschaftseinrichtungen, die die Bewohner und Bewohnerinnen – hier Miteigentümer – mitfianzieren mussten. Sein Trick, so meint der Architekt, sei es gewesen, dass beispielsweise ein zentrales Hallenbad bei der Planung und beim Verkauf fix zum Angebot gehörte. Entsprechend hätten jene, die zuerst kein Schwimmbad gewollt hätten, eine Mehrheit der Miteigentümer um sich scharen müssen, um dieses aus der Planung zu kippen. Diese Mehrheit aber sei nicht zu Stande gekommen, worüber heute grundsätzlich alle glücklich seien.

Die Siedlunge Sargfabrik von bkk-2 Architektur/Johnny Winter und arc.lab/Franz Sumnitsch. Bild: Müry Salzmann Verlag

Pflege der Halböffentlichkeit
Die Siedlungen Sargfabrik und Miss Sargfabrik in Wien schliesslich – wie die Betreiber und Bewohnerinnen von sich selbst sagen, sind sie Österreichs grösstes selbstverwaltetes Wohn- und Kulturprojekt – wurden zwischen 1994 und 2000 von bkk-2 Architektur/Johnny Winter und arc.lab/Franz Sumnitsch erbaut. Erstere umfasst 73 Einheiten. Angespornt durch den Erfolg wurde wenig später das Projekt der kleinen Schwester um die Ecke angegangen, der Miss Sargfabrik, die 39 Wohneinheiten mitsamt Bibliothek, Gemeinschaftsküche und Büros umfasst.
Im Film sprechen die Verantwortlichen von einer Ermöglichungsarchitektur. Ermöglicht werden soll beispielsweise der ungezwungene Schwatz auf den Laubengängen oder in der Waschküche. Es sind hier halböffentliche Zonen1, denen ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Gemeinsam betrieben wird etwa auch der Dachgarten. Heute würden übrigens Liegenschaften im Umkreis ihrer Siedlung, die nicht zu ihrem Projekt gehörten, mit ihrer Lage nahe der Sargfabrik beworben, berichten die Einwohner, obwohl die Skepsis oder gar Ablehnung der Nachbarschaft anfänglich gross war.
 
Gemeinschaft, Halböffentlichkeit, Privatheit
Die gezeigten Beispiele sind grundsätzlich weder neu noch charakteristisch für Österreich. Hofhäuser sind typologisch wohl so alt wie feste Behausungen überhaupt, Gartenstädte wurden bereits im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts geplant, Terrassenhäuser der 1960er- und 1970er- Jahre finden sich hierzulande wie anderswo zuhauf. Verdichtete und multifunktionale Genossenschaftsprojekte gibt es seit einigen Jahren besonders auch in Zürich wieder, wie die drei fortschrittlichen K von Kraftwerk, Karthago oder jüngst Kalkbreite belegen. Der Film Häuser für Menschen gehört also nicht zur Sparte News, sondern eher in die Rubrik «lebendige Traditionen». Er zeigt, dass viele Menschen ein Bedürfnis nach Natur haben – und sei das Fleckchen Erde noch so klein. Was es für die Mehrheit der Menschen weiter zum Wohnen braucht, sind Orte vonGemeinschaft und der organisierten Feste, Orte der Halböffentlichkeit oder der ungezwungenen Begegnungen und zuguterletzt Orte des Rückzugs, der Privatheit und Intimität.

Ob in Hoch- oder Flachbauten, als kleiner Nachsatz sei die Bemerkung erlaubt, dass letztere Einsicht fürs zeitgenössische Bauen wohl bedeutet, Wohnungsaussenflächen nicht rundum zu verglasen, denn geschlossene Mauerpartien ermöglichen Privatheit auf engstem Raum. Vielleicht würden dann auch die Wohnungsgrundrisse wieder kleiner.

Film
Reinhard Seiß, Häuser für Menschen. Humaner Wohnbau in Österreich, DVD, Wien 2013

1) Am 5.4.14 fand in Zürich die Tagung «Dazwischen – von der Wohnungstüre zur Trottoirkante» zum Thema des halböffentlichen Raums statt

Verwandtes Thema
Justus Dahinden, Architektur – Form und Emotion (Architecture – Form and Emotion), Stuttgart 2013

Vergleiche weiter
- «Eine Ecke, wo die Welt weit, weit weg ist», in eMagazin 7/11
- Verdichtet, in: eMagazin 20/11
- Masse und Ko-Existenz, in: eMagazin 5/12

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