Der Raum als grosses Ohr

Susanna Koeberle
26. April 2021
Neben acht Glocken geben auch zwei Triangel Töne von sich; Ausstellungsansicht der Arbeit «The Sense of Things» von William Forsythe (Foto © Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werk © William Forsythe)

Ein Raum ist mehr als eine leblose Schachtel. Das können zurzeit Besucher*innen dank einer Arbeit von William Forsythe erfahren. Belebt werden die leeren Räume des Erweiterungsbaus von David Chipperfield durch verschiedene Glockentöne. Unser Gehörsinn hat die Fähigkeit, Klänge zu filtern, gewisse Töne auszublenden. Dies geschieht aus reinem Selbstschutz. Zu viele und zu laute Töne können krank machen. Doch Klänge bewegen uns auch – sowohl physisch als auch psychisch. Das Ohr ist ein komplexes Organ, durch das wir nicht nur hören, sondern auch fühlen können. In Forsythes Klanginstallation werden unsere Sinne aktiviert, wir werden dazu animiert, unsere Bewegungen im Raum von Klängen leiten zu lassen. Es ist faszinierend am eigenen Leib zu beobachten, dass wir dies ganz unbewusst tun. Unsere Körper spüren die Vibrationen der Klänge und werden durch sie in Bewegung versetzt. Der Homo sapiens bleibt eben ein von Instinkten getriebenes Tier. Unsere Schritte beschleunigen sich, sobald wir die ersten Glockentöne hören, wir tanzen uns gewissermassen dem Klang entgegen. Und so werden wir, ohne es zu bemerken, zu Protagonist*innen von Forsythes Inszenierung.  Dass ein Choreograph eingeladen wurde für die Preview des Erweiterungsbaus eine Arbeit zu entwickeln, mag erstaunen. Wer die Arbeit des international tätigen und renommierten Künstlers kennt, weiss aber, dass er neben seinen Tanzstücken seit mehren Jahren auch «choreographische Objekte» kreiert, wie er diese installativen Werke nennt. Diese funktionieren auch ohne menschliche Tänzer*innen, choreographieren kann man eigentlich jede Bewegung, auch diejenige eines Roboters. Forsythe lotet mit diesen Arbeiten vielmehr die Verflechtung zwischen Bewegung, Körper (als Volumen gedacht) und Raum aus. 

Ausstellungsansicht der Arbeit «The Sense of Things» von William Forsythe (Foto © Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, Werk © William Forsythe)

Der Bewegungskünstler Forsythe hat für «The Sense of Things» ganz besondere Klänge ausgewählt, nämlich diejenigen von Kirchenglocken. Sie sind stark mit Sinn beladen, ihre religiöse Konnotation berührt auch nicht gläubige Menschen; Glockentöne haben quasi universellen Charakter. Glocken erklingen jeweils zu besonderen Momenten, sie haben rituelle Funktionen. Man habe dem Glockenläuten früher sogar magische Kräfte nachgesagt, erklärt die Kuratorin Mirjam Varadinis, die den Künstler eingeladen hat. Glocken herzustellen und sie zum Klingen zu bringen, bedarf eines grossen handwerklichen Könnens. Handwerkliche und präzis ausgeführte Details prägen auch das Gebäude von David Chipperfield. Diese zeigen sich gerade in den kleineren Räumen sowie in den Übergangszonen zwischen den unterschiedlichen Massstäblichkeiten der Raumkomposition. Während Besucher*innen an der Preview schon in der grossen Halle andächtig lauschten, wanderten ihre Blicke in die Höhe – dort war allerdings trotz der sakralen Anmutung (ein Tick zu viel des Guten in meinen Augen) keine Glocke zu sehen. Die acht Bronzeglocken und die beiden Triangel müssen gehend und hörend entdeckt werden, jede Person ihrem eigenen Weg und Rhythmus folgend. 

Kunsthaus Zürich, Erweiterungsbau von David Chipperfield, Ansicht Heimplatz mit der Installation «Tastende Lichter» von Pipilotti Rist (Foto © Juliet Haller, Amt für Städtebau, Zürich)

Steht man dann vor den Holzkonstruktionen mit den daran aufgehängten Glocken, wird der Raum als Resonanzkörper, als grosses Ohr gewissermassen, physisch erfahrbar. In einem Raum werden die Klänge durch ein Subwoofersystem verstärkt, der Bass dröhnt weit in die anderen Räumlichkeiten hinaus. Auch das Spiel mit Licht aktiviert die Sinne und schafft eine fast synästhetische Wahrnehmungserfahrung. Das Zusammenführen von Licht und Klang kann auch brutal sein: Etwa wenn mit einem plötzlichen und lauten Glockenschlag das Licht wie ein Blitz den Raum erhellt. Das assoziieren wir augenblicklich mit weniger beschaulichen Aspekten des Glockentons, dieser kann eben auch vor Gefahren wie Krieg warnen. Unser Leben war auch in den letzten Monaten durch extreme Erfahrungen geprägt. Bewegung kann helfen, unser körpereigenes System wieder in Balance zu bringen. Vielleicht könnte uns das derzeitige Chaos auch dazu anregen, «einen tanzenden Stern zu gebären», wie Nietzsche so schön in seiner Vorrede zu «Also sprach Zarathustra» sagt. Forsythe hätte wohl nichts dagegen. Die Räume des Erweiterungsbaus als lebendige Bühne für alle: Hoffentlich klingt diese Vorstellung auch nach dem Abbau der Glocken nach.

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