Ungemütliches aus St. Gallen

Susanna Koeberle
7. April 2021
«Ohne Titel» (1997) von Christoph Büchel ist eine der gezeigten Arbeiten in der Ausstellung «Città irreale». Der Künstler schenkte sie 1999 dem Kunstmuseum St. Gallen. (Foto: Sebastian Stadler)

Die blauen Flecken sind verschwunden, das schockartige Gefühl hallt immer noch nach. Ein Kunstwerk, das so wirkt, muss etwas Besonderes sein. Und das ist «The House of Friction (Pumpwerk Heimat)» von Christoph Büchel definitiv. Der Schweizer Künstler ist vor allem für seine Aktionen bekannt, über die man geteilter Meinung sein kann. So brachte er 2019 ein gesunkenes Flüchtlingsboot, in dem 2015 fast tausend Menschen ihr Leben verloren, von Sizilien an die Kunstbiennale von Venedig. Einige Kritiker fanden «Barca nostra» geschmacklos, andere sahen darin Mut zum politischen Statement. Christoph Büchels Arbeit polarisiert jedenfalls. Doch mit Politik hat die Raumskulptur im Wasserturm nichts zu tun. Das Begehen von «The House of Friction (Pumpwerk Heimat)» müsste man eher als Horrortrip bezeichnen, als Reise zu den eigenen Ängsten. Oder als Resilienz-Test. Die Arbeit wirkt innerhalb der Ausstellung «Città irreale» fast als Fremdkörper. Denn es geht nicht wirklich um den städtischen Raum oder das Zusammenleben an sich, diese Arbeit geht noch viel weiter, sie thematisiert die «Conditio humana» als solche (die natürlich jeweils an gesellschaftliche Realitäten gebunden ist). Verwandt ist Büchels Kunstwerk am ehesten noch mit Sara Masügers «Tunnel», der zu den ausgestellten Werken gehört. Der Doppelcharakter dieser 15 Meter langen Gipskonstruktion – aussen kubisch und glatt, innen amorph und höhlenartig – verweist auf die Ambivalenz dessen, was wir Heim nennen. Das Heimische kann nämlich auch unheimlich werden. Dass wir eben auch das Vertraute als un-heimlich erfahren können, zeigte schon Sigmund Freud in seinem Essay «Das Unheimliche» (1919). 

Sara Masüger, «Tunnel», 2014/2020, erworben vom Kunstmuseum St. Gallen 2020 (Foto: Sebastian Stadler)

Definitiv ambivalent ist auch das Erlebnis von Büchels Installation – und zwar bis an die Schmerzgrenze. Wobei Installation zu stark nach Kunst und harmlos klingt. Dass meine Vorgängerin nach der Begehung meinte, es sei «cool» gewesen, konnte ich, nachdem ich selbst dort gewesen war, nicht wirklich nachvollziehen. Vielleicht war ich einfach nur unpassend angezogen. Also kurz vorab ein Tipp: Wenn Sie sich entscheiden, diese Erfahrung zu machen, dann bitte nicht in einem langen Wickeljupe aus den 1980er-Jahren! Und erwarten Sie auch nichts «Cooles». Cool sind höchstens die Untertemperaturen, die in einem der «Räume» von «Pumpwerk Heimat» erst dann auffallen, als man verzweifelt nach Halt sucht und dabei etwas Metallenes berührt. Dabei gefrieren einem fast die Finger. 

Wer es bis in diese kalte Zone geschafft hat, kann auch nicht mehr zurück. Oder kommt das mit dem «Nichtmehrzurückkönnen» später? Als Besucher*in bekommt man im Vorfeld so vage Anweisungen und Warnungen, dass einem aus purer Neugierde nichts anderes übrig bleibt, als das Abenteuer zu wagen. Dieses kann man notabene nur alleine unternehmen – auch das gehört zum Konzept. Zu zweit würde man sich allenfalls ermuntern und gut zureden, doch auf sich allein gestellt bleibt einem höchstens noch der letzte Ausweg, nämlich per Telefon Hilfe anzufordern. Das sei auch schon vorgekommen, versichert mir das Personal der Lokremise.

Christoph Büchel, «The House of Friction (Pumpwerk Heimat)», 2002/2013, Installation im Wasserturm, erworben vom Kanton St. Gallen 2012 (Foto: Sebastian Stadler)

Bevor man herausfindet, was sich im Inneren verbirgt, kann man das Bauwerk zunächst einfach mal sachlich architektonisch einordnen. Der Wasserturm wurde 1906 nach Plänen von Robert Maillart gebaut und ist einer der Pionierbauten des Eisenbetonbaus in der Schweiz. So weit so gut. Doch schon der Einstieg in den Turm bereitet erste Schwierigkeiten. Eine Metallleiter entlang der Wand hinaufzuklettern, ist zwar grundsätzlich machbar. Dumm ist nur, wenn man mit der einen Hand besagten Jupe halten muss, während die andere mit dem abgegebenen Schlüssel die Türe aufmachen müsste. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, ich will nicht «spoilern», das wäre auch nicht im Sinne des Künstlers, der uns ja bewusst dem Unbekannten und Ungemütlichen aussetzen möchte. Die Arbeit sei sozusagen eine textproduzierende Maschine, ein bedeutungsgenerierendes Pumpwerk, durch das Besucher*innen fliessen würden, so Büchel. Jeder und jede erlebt dieses Abenteuer anders.

Was Besucher*innen im Innern erwartet, ist wie gesagt ungewöhnlich und bedarf auch einer gewisser physischen Fitness. Viel schlimmer als diesen sportlichen Aspekt fand ich allerdings das Gefühl des Nichtweiterwissens. Irgendwann ging sogar das Wissen darum flöten, dass ich mich ja «nur» in einer Kunstinstallation befinde. Es war, als sei ich in einem Traum gefangen und könnte nicht mehr aufwachen. Durchgeschüttelt zwischen Staunen, Schmunzeln und Beklemmung erinnerte mich dieses Kunstwerk daran, wie schnell Vertrautes in sein Gegenteil kippen kann. Eine Feststellung, die wir gerade dieser Tage machen müssen – auch in St. Gallen.

Ein Vorgeschmack dessen, was einen im Innern des Wasserturms erwartet. (Foto: Kunstmuseum St. Gallen)

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