Visionen und Taten

Susanna Koeberle
3. noviembre 2022
Die Ausstellung «Visionaries» ist Teil der Architekturtriennale von Lissabon, die unter dem Motto «Terra» steht. Die Triennale dauert noch bis zum 5. Dezember dieses Jahres. (Foto: Sara Constanca)

Susanna Koeberle hat die sechste Architekturtriennale von Lissabon besucht, die den Titel «Terra» trägt. Dieser Beitrag ist der zweite Teil ihrer Besprechung der umfangreichen Schau. In einem ersten Artikel gab sie bereits einen Überblick über das Programm.

Angesichts der mannigfaltigen Herausforderungen, mit denen die Architektur heute konfrontiert ist, stehen vermehrt grundlegende Fragen zur Rolle und Aufgabe der Disziplin im Raum. Was ist der Handlungsspielraum von Architekt*innen, wenn das Erstellen von neuen Bauten immer stärker infrage gestellt wird? Was heisst es für die Architektur, wenn weltweit immer mehr Gebäude ohne Spezialist*innen entstehen?

2016 nannte Alejandro Aravena «seine» Biennale «Reporting from the Front» und lenkte die Aufmerksamkeit auf Orte, an denen Bauten mehr als bloss eine ästhetische Qualität besitzen. Architektur soll in erster Linie die Lebensqualität der Menschen verbessern, so der Grundtenor des Kurators. Sein Ansatz steht auch für einen Paradigmenwechsel im Architekturdiskurs. Damals ahnte Aravena wohl nicht, wie recht er mit dem kriegerischen Begriff der «Front» behalten sollte, denn die Phänomene Krieg und Klimakatastrophe sind eng miteinander verstrickt; das wird einem schmerzlich bewusst, wenn man die Nachrichten aus der Ukraine liest. 

Doch reicht es, von der Front zu berichten? Braucht es nicht vielmehr Taten statt Feststellungen, kann man sich angesichts solcher Ausstellungsformate fragen. Diese Frage ist auch im Hinblick auf die Architekturtriennale von Lissabon gerechtfertigt. Zum reichhaltigen Programm der sechsten Ausgabe mit dem Titel «Terra» gehören vier Ausstellungen.

Die Ausstellung «Visonaries» findet im Culturgest statt, einem Kulturzentrum im Hauptsitz der portugiesischen Sparkasse. (Foto: Sara Constanca)
«Visionaries» – auch Ausstellungen können visionär sein

Dass diese durchaus auch als Taten verstanden werden können, davon ist Anastassia Smirnova, Mitgründerin des niederländischen Büros Svesmi und Kuratorin der Schau «Visionaries», überzeugt. Mit den dort vorgestellten Projekten möchte sie zeigen, «wie Architektur alternative Ordnungen vorschlagen und damit Zukunft mitgestalten kann», wie sie anlässlich einer Führung durch die Ausstellung sagte. Für die Designerin und Forscherin sind auch Veranstaltungen wie die Triennale visionär; sie verbreiten Strategien und konkrete Umsetzungen, die Vorbildcharakter haben. Botanisch gesprochen könnte man sie als Samen lesen, die später einmal Früchte tragen; das muss nicht gleich morgen sein, wie der Begriff des «kathedralen Denkens» zeigt. Es ist laut Smirnova eines von drei Modellen, wie man Autorschaft in der Architektur fassen kann. Versteht man architektonische Visionen als Open Source oder als Angebote, dann wird Urheberschaft allerdings komplexer. Die Zuweisung der zwanzig Fallbeispiele zu einem der drei Typen steht in der Schau «Visionaries» in diesem Sinne nicht im Vordergrund.

Das «kathedrale Denken» beschreibt ein Konzept, bei dem die in den Entwurf involvierten Architekt*innen dessen Realisierung nie erleben werden. Das bedeutet, dass sie in erster Linie für die zukünftigen Generationen tätig sind. Ein anderes Modell ist die «monovisionäre Architektur», die an eine bestimmte Person gebunden ist und eine einzelne Vision verfolgt. Dieses klassische Verständnis von Autorschaft kam – zumindest bis vor Kurzem – am häufigsten vor. Architektur kann aber auch im kleinen Massstab stattfinden: Mit punktuellen Eingriffen oder Forschungsarbeiten können Architekturschaffende etwas anstossen, das ein Eigenleben entwickelt. In diesem Fall sind Architekt*innen eher Moderator*innen. Egal zu welchem Typ man sie zählen will, sind die vorgestellten Beispiele als eine Art Prototypen zu verstehen, die frei interpretierbar sind.

Der Beitrag über die indische Modellstadt Auroville von Roger Anger (1923–2008) wurde von Anupama Kundoo kuratiert. (Foto: Sara Constanca)

Mehrere Projekte beweisen, dass auch historische Positionen das Zeug dazu haben, uns bis heute zu inspirieren. Etwa die utopische Stadt Auroville in Südindien, die der französische Architekt Roger Anger (1923–2008) im Auftrag von Mirra Alfassa entwarf. Für den Aufbau dieses visionären Projekts gab der erfolgreiche Architekt sein Büro in Paris auf und zog nach Indien, wo er zusammen mit der spirituellen Gemeinschaft von Sri Aurobindo an den Bauten arbeitete. Die Idee war, eine universelle Stadt, die der ganzen Menschheit gehört, zu entwerfen. Das Projekt kam ins Stocken, wird aber heute von einer langjährigen Mitarbeiterin Angers weitergeführt: der indischen Architektin Anupama Kundoo. Sie hat auch den Beitrag über Anger und sein radikales Projekt in der Ausstellung kuratiert. Das Verwenden von lokalen Materialien und Techniken verleiht Auroville heute eine neue Relevanz jenseits des esoterisch geprägten Ursprungs des Projekts. Die Stadt hat gleichsam Modellcharakter.

Eine Art Selbstversuch unternahm das spanische Büro Ensamble Studio. Die beiden Gründer bewohnten 2018 mit ihrer Familie drei Monate lang eine Höhle in einem Steinbruch in Menorca. Das Experiment «Ca’n Terra» war ein Laboratorium des autonomen Wohnens und entpuppte sich als lehrreiche Erfahrung, die zeigte, wie man das Vorgefundene durch kleine Interventionen in ein funktionierendes Habitat verwandeln kann. Architektur entsteht in diesem Fall nicht durch einen Entwurf, sondern durch die Relektüre der Natur. 

In einem noch kleineren Massstab findet Architektur beim Projekt «Abitacolo» von Bruno Munari (1907–1998) statt, das der italienische Designer 1971 entwarf. Die modulare und bewohnbare Struktur war als Rückzugsort für Teenager gedacht, quasi als Miniwohnraum innerhalb einer Wohnung. Das Vereinen von Möbel und Raum ist in Zeiten von Wohnungsnot und veränderten familiären Strukturen wieder extrem aktuell, was sich auch daran zeigt, dass der Entwurf vor Kurzem neu aufgelegt wurde. Munari schuf eine personalisierbare Wohntypologie im Kleinformat, die mit wenig Material auskommt. «Abitacolo» kann als soziologische, ökonomische und ökologische Utopie gelesen werden.

Wie kann man aus einer Höhle ein funktionierendes Habitat machen? Zu sehen ist in Lissabon das Projekt «Ca’n Terra» von Ensamble Studio aus Spanien. (Foto: Sara Constanca)

Die Stärke der Ausstellung liegt nicht nur in der Diversität und Radikalität der gezeigten Projekte, sondern ebenso in der besonderen Szenografie von Bureau (Daniel Zamarbide, Carine Pimenta und Galliane Zamarbide). Das Kulturzentrum Culturgest befindet sich im Hauptsitz der portugiesischen Sparkasse. Aufgrund seiner Architektur und Raumaufteilung ist der Bau nicht ganz einfach zu bespielen. Die Gliederung durch Vorhänge erlaubt eine optische Trennung der einzelnen Themenschwerpunkte, ohne die Zirkulation zu erschweren.

«Abitacolo» von Bruno Munari aus dem Jahr 1971 erhielt 1979 den Compasso d’Oro. (Foto: Sara Constanca)
«Multiplicity» – Ad-hoc-Lösungen für ein besseres Zusammenleben im globalen Süden

Ebenso sorgfältig kuratiert und inszeniert präsentiert sich die Ausstellung «Multiplicity» im National Museum of Contemporary Art (MNAC). Die beiden Kuratoren Tau Tavengwa und Vyjayanthi Rao fokussieren auf Projekte im globalen Süden, die den wachsenden Herausforderungen und Krisen mit Ad-hoc-Methoden begegnen. Die meisten davon entstehen kollektiv oder auf Initiative von Organisationen. Sie führen vor, auf welche Weise Veränderung stattfinden und welche Rolle dabei Architektur spielen kann, wobei das Wort Architektur vielleicht nicht immer passend ist, denn es geht in der Schau um räumliche Interventionen, die man auch zur Disziplin Design zählen könnte. Die 17 vorgestellten Projekte tragen dazu bei, soziale Realitäten zu verändern und neue Muster des Zusammenlebens zu fördern. Dabei werden zentrale Themen wie Gesundheit, Altern, Nahrungsmittel oder Klima angesprochen.

Die Schau «Multiplicity» konzentriert sich auf Projekte im globalen Süden. (Foto: Sara Constanca)

Auch bei dieser Schau kommt die Szenografie mit wenigen und zugleich diversen Mitteln aus. Miguel Vieira Baptista entwarf schlichte Möbelstücke aus Metall und Holz, die zum Teil ausziehbare Ablagen aufweisen. Beim Öffnen finden Besucher*innen Broschüren mit Bild- und Textmaterial zu den Projekten. Tragbare «Totems» aus Holz entpuppen sich als Tonträger, die zusätzliche Informationen zu den fünf unterschiedlichen Sektionen der Ausstellung liefern. In der Abteilung «Hacks» etwa werden kleine Interventionen wie eine Freundschaftsbank in Harare oder ein Gemeinschaftskühlschrank in einem Quartier von New York vorgestellt. 

Aber welche Rolle spielen Architekt*innen bei solchen Projekten? Vyjayanthi Rao, die selber Anthropologin und keine Architektin ist, findet nicht, dass es keine Architekt*innen mehr braucht. Gerade in der Lehre sei die Sensibilisierung für neue Modelle von Gemeinschaft wichtig, sagt sie. Das Bilden von Netzwerken, die kollektives Handeln fördern, gehört in ihren Augen ebenfalls zu den Aufgaben von Baukünstler*innen. Es geht ihr also im Wesentlichen darum, die Definition von Architektur zu erweitern. Der Titel der Ausstellung kann so gesehen auf die Disziplin selbst übertragen werden. Denn auch die Architektur ist im Begriff, sich neu zu orientieren, sich gleichsam zu vervielfältigen und ihre Fühler in unbekannte Felder auszustrecken.

Das Ausstellungsmobiliar in «Multiplicity» bietet einen vertieften Einblick in die Inhalte. (Foto: Sara Constanca)

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