Die Hoffnung stirbt zuletzt

Jenny Keller
14. noviembre 2018
Ein Kontrapunkt zum brummenden Venedig: Die «Esperienza Pepe» auf dem Lido. Bild: jk

Venedig ist natürlich wunderschön, die Lagunenstadt ist UNESCO-Weltkulturerbe, ist kulturell zum Bersten voll, steht immer mal wieder unter Wasser und übt eine ungebrochene Anziehungskraft aus – nicht nur auf Architektur- und Kunst-Touristen. Das ganze Jahr hindurch fahren Boote mit Reisegruppen an, die eiligst durch Venedig geschleust werden, bevor sie am Abend wieder im Bauch eines Kreuzfahrtschiffes verschwinden, wie wir an dieser Stelle bereits einmal geschrieben haben. Auf SRF.ch ist zu lesen: «Schätzungen gehen davon aus, dass Venedig im Schnitt täglich von 100'000 Menschen besucht wird, Tendenz steigend. Dagegen stehen aktuell 55'000 Einwohner, Tendenz dramatisch sinkend.»

Venedig soll mehr sein als eine morbide, aber attraktive Kulisse für die Architektur- und die Kunstbiennalen, fordert die «Biennale Urbana», die mit ihrem Namen auf die Documenta Urbana anspielt, die 1982 in Kassel stattgefunden hat: Lucius Burckhardt hat damals mit Studierenden vor Ort über die Entwicklung der Kasseler Innenstadt geforscht. Die Gruppe venezianischer Architekten, die sich zur «Biennale Urbana» zusammengeschlossen hat, will mit ihren Aktivitäten Kontakte zwischen der lokalen Bevölkerung und den Besuchern fördern. Dies wird während der aktuellen Architekturbiennale mit «Esperienza Pepe» versucht. Die Ankündigung konnte man im französischen Pavillon, der sich nach dem Konzept von Encore Heuereux Architectes den «lieux infinis», also nicht kommerziellen Zwischennutzungen, verschrieben hat, vernehmen: In einer ehemaligen Kaserne am nördlichen Ende des Lido die Venezia hat eine Kollektive unter der Leitung der Vereinigung «Biennale Urbana» eine alternative Architekturbiennale eingerichtet.

Ein Jungle-Garten ganz ohne Landschaftsarchitekten. Bild: jk

Man wähnt sich in einem anderen Film, besucht man die «Esperienza Pepe», die nur 15 Vaporetto-Minuten vom brummenden Zentrum Venedigs entfernt liegt, neben der Kirche San Nicolò und dem kleinen Flughafen Nicelli, dessen Gabäude im Stil des Realismo erbaut worden ist und auch einen Besuch wert ist.

Ein grosses Tor riegelt den off space ab und ist nur zu gewissen Zeiten offen – wir haben uns unauffällig reinschmuggeln können, weil wir an einem Freitagnachmittag vor der offiziellen Zeit am Lido waren. Nicht ganz sicher, ob einen hier ein grosses Pfadi-Lager erwartet oder einen Haufen Aussteiger, waren wir begeistert von dem, was wir in der ehemaligen Militärkaserne vorfanden, die zwischen 1591 und 1595 errichtet worden ist und bis 1999 in Gebrauch war: eine friedliche und kreative Idylle.

Anleitung zum kreativen Ungehorsam. Bild: jk
Idylle auf ehemaligem Kasernenhof. Bild: jk
Wohlorganisiert und immer ästhetisch. Bild: jk

Zwei junge Erwachsene – Karolin, eine Architekturstudentin aus Estland, 25, erzählt später, dass ständig rund 10 Freiwillige hier gegen Kost und Logis mithelfen, die Besucher zu betreuen und zu bewirten – spielen auf der Kasernenwiese Fussball, ein anderer spielt wunderbar Klavier. An einer langen Tafel, im Stile von Enzo Maris «autoprogettazione» aus Sperrholz gezimmert, sitzt ein Organisator über seinen Laptop gebeugt, zwei Frauen bereiten die Bar vor. Der Abfall wird selbstverständlich getrennt, das Wochenprogramm steht auf einer grossen Schultafel. Offenbar war gerade die Staatliche Bahngesellschaft Frankreichs zu Besuch oder eine andere Gruppe mit demselben Akronym, auf jeden Fall ist am Freitag ein Seminar, am Abend davor ein Essen mit der SNCF eingetragen. Am Samstag steht Yoga auf dem Programm, am Abend ist dann Party.

«La Foresta» heisst die Betten-Installation. Bild: jk

In einem der Innenräume treffen wir auf Karolin, die sich in den Solarduschen, die Yes We Camp eingerichtet haben, für den Abend stylt. Daneben befinden sich die «Foresta», ein Schlafraum mit 30 Schlafplätzen für die vielen Freiwilligen und Studentengruppen, die in diesem unendlichen Raum, der sich immer veränderte, zu Besuch waren und die Ateliers, Ausstellungsräume und die Skateramp belebt haben. Das hauseigene Kino-Festival, Partys und Performances seien ihre persönlichen Highlights, sagt Karolin, der man gerne glaubt, dass sie gerade den Sommer ihres Lebens hat. Was davon übrigbleibt, erfahren wir hoffentlich auch nach dem Ende der Biennale. Denn Venedig geht weiterhin langsam unter, im Wasser oder in den Touristenströmen, auch wenn in zwei Jahren die nächste Architekturbiennale stattfindet.


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