Denise Tonella: «Entscheidungen, die wir heute treffen, können die Geschichte von morgen beeinflussen – und wie wir sie treffen, hat viel mit der Vergangenheit zu tun»
Elias Baumgarten
15. julio 2021
Foto © Schweizerisches Nationalmuseum
Mit der Tessinerin hat das Schweizerische Nationalmuseum neu eine junge, aufgeweckte Direktorin mit einem beeindruckenden Wissensschatz. Was hat sie mit dem Museum vor?
Frau Tonella, Sie stammen aus Airolo, genauer gesagt aus Madrano – eine wunderschöne Gegend, aber auch abgelegen und sehr ländlich. Kommt man aus einer ebenso bäuerlich geprägten Region, kann man sich gut vorstellen, dass es dort noch in den 1990er-Jahren ungewöhnlich war, dass eine junge Frau studiert und eine grossartige Karriere hinlegt.
Als Mädchen war es für mich schon ein riesiger Schritt, nicht einfach eine Lehre zu machen, sondern nach Bellinzona – in die grosse Stadt, wie ich damals dachte – aufs Liceo zu gehen. Meine Lehrer haben mich sehr unterstützt und meinen Vater überzeugt. Noch als Gymnasiastin hatte ich zunächst nicht vor, zu studieren. Ich dachte mir: Ich warte bis ich 18 bin, dann werde ich vielleicht Krankenschwester. Mehr konnte ich mir zu der Zeit nicht vorstellen. Aber in Bellinzona hat sich mir eine ganz neue Welt eröffnet: Ich habe Kultur und Geschichte für mich entdeckt. Meine Neugier wurde von Tag zu Tag grösser, ich wollte immer mehr lernen. Da erst habe ich mich für ein Studium entschieden. Einmal Direktorin des Schweizerischen Nationalmuseums zu werden, war trotzdem nicht mein Ziel – das hat sich so ergeben. Ich habe einfach immer versucht, offen zu sein und alle Chancen zu ergreifen, die mir das Leben bietet.
Ihr Vater wollte nicht, dass Sie aufs Gymnasium gehen und später studieren?
Er war stark von seinen Eltern und deren Werten geprägt. Darin kamen studierende Frauen nicht vor. Während meiner Zeit am Liceo gab es viel Streit, und wir haben uns lange nicht gut verstanden.
Trotzdem haben Sie sich später angenähert. Dem Tessiner Fernsehen haben Sie während der Sendung «Il Gioco del mondo» gesagt, Ihr Vater habe verstanden, dass ein Studium auch für eine Frau ein guter Schritt ist, nachdem er als Darsteller Teil eines Ihrer Kurzfilmprojekte war.
Während des Studiums begann ich, seine Situation zu verstehen. Ich begriff, wie er aufgewachsen ist und welche Werte ihm seine Familie vermittelt hat. Umso schöner war, dass er allmählich merkte, wie positiv seine Freunde reagierten, wenn er ihnen erzählte, dass seine Tochter studiert. Er lernte, dass ein Studium etwas Gutes sein kann. Der Film, den Sie ansprechen, war ein Höhepunkt unserer Beziehung, weil mein Vater live gesehen hat, was ich mache. Er fand die Zeit am Set spannend und war dann sehr stolz auf den fertigen Film.
Unsere Geschichtsschreibung ist bis heute männerzentriert. Die Leistungen von Frauen wurden lange wenig gewürdigt oder sogar ignoriert. Oft war die Rede von der «Frau von», der «Schwester von» oder der «Tochter von». Sie sagen, auch die Sammlungen vieler Museen würden diesbezüglich Defizite aufweisen. Doch es tut sich etwas: Aktuell läuft im Landesmuseum die Schau «Frauen.Rechte». Zwar hat sie noch Ihr Vorgänger Andreas Spillmann aufgegleist, doch Sie haben federführend an ihr gearbeitet. Das Thema Emanzipation liegt Ihnen auch aufgrund Ihrer Erfahrungen besonders am Herzen?
Wahrscheinlich, doch ich habe es lange nicht so gesehen. Ich hatte meinen Emanzipationskampf am Gymnasium. Damals war mir aber nicht bewusst, wie stark meine Schwierigkeiten damit zu tun hatten, dass ich eine Frau bin. Als ich dann an der Universität war, dachte ich: Jetzt bin ich weg, jetzt bin ich frei! Das Thema Frauenrechte hat mich damals kaum beschäftigt. Während meines Studiums hatte ich nie das Gefühl, anders behandelt zu werden, weil ich eine Frau bin. Geschlechtergeschichte habe ich nur am Rande verfolgt. Erst als ich die Ausstellung «Frauen.Rechte» als Kuratorin leiten durfte, begann ich wieder intensiv über meinen eigenen Weg als Frau nachzudenken. Vieles kam wieder hoch. Mir wurde klar, dass einiges von dem, was ich als Mädchen erlebt habe, mit dem Thema Gleichberechtigung und mit Rollenstereotypen zu tun hat. Ich wage zu sagen, ich bin in den 1990er-Jahren aufgewachsen wie andere Frauen in den 1970er-Jahren.
Blick in die Ausstellung «Frauen.Rechte» (Foto © Schweizerisches Nationalmuseum)
«Frauen.Rechte» ist eine politische Ausstellung, die Schau «Der erschöpfte Mann» von Stefan Zweifel und Juri Steiner, die kürzlich alle Idealvorstellungen von Männlichkeit als gescheitert darstellte, war es nicht minder. Dabei untersteht das Schweizerische Nationalmuseum der Aufsicht des Bundesrats. Spüren Sie keinen politischen Druck?
Innerhalb von dem, was das Bundesgesetz über die Museen und Sammlungen des Bundes (2009) vorgibt, verfügen wir im operativen Geschäft über Gestaltungsspielraum. Wir können die Themen relativ frei wählen. Ich sage relativ, weil es unser Auftrag ist, Schweizer Kulturgeschichte aufzubewahren und zu vermitteln und ein Verständnis für die vielfältige Identität der Schweiz aufzubauen. All unsere Ausstellungen weisen deshalb einen Schweiz-Bezug auf.
Es gibt viele Gruppen und Institutionen, die Themenvorschläge an uns herantragen und dabei manchmal auch Druck aufbauen. Diese Ideen prüfen wir immer sorgfältig, manches ist aber einfach zu viel und würde als Ausstellung nicht funktionieren. Seitens der Politik hingegen spüren wir weniger Druck als vielmehr eine Erwartungshaltung – zum Beispiel, wenn das Jubiläum eines wichtigen historischen Ereignisses ansteht. Das hat durchaus seine Berechtigung.
Das Schweizerische Nationalmuseum soll Schweizer Identität vermitteln?
Natürlich gibt es nicht die Schweizer Identität. Wir leben in einer sehr vielfältigen und teilweise auch schnelllebigen Welt. Das Museum soll Orientierung geben und kann durchaus auch identitätsstiftend wirken. Gleichzeitig soll es ein Ort des Infragestellens von Identität sein. Wir wollen eine Diskussion darüber auslösen, was uns prägt.
Wie vielfältig die Welt ist, wissen Sie besonders gut: Sie sprechen nicht weniger als sechs Sprachen und sind sehr viel und weit gereist – zum Beispiel von Basel mit dem Zug bis nach Hanoi.
Viel zu reisen und neue Sprachen zu lernen, hat mir beim Umgang mit Schweizer Geschichte extrem geholfen. Durch den stetigen Wechsel von Land zu Land und Sprache zu Sprache fällt es mir leichter, andere Perspektiven einzunehmen und meinen eigenen Blick auf historische Ereignisse und Entwicklungen zu hinterfragen. Mir ist wichtig, nicht die eine Geschichte zu erzählen, sondern immer wieder zu überprüfen, welche Erzählstränge es noch gibt.
Männer hatten in der Schweiz ein Stimmrecht unabhängig davon, ob sie Militärdienst leisteten. Bis 1874 wurden nur rund 40 Prozent der diensttauglichen Männer eingezogen. Die militärische Abstinenz der Frauen wurde oft als Argument gegen das Frauenstimmrecht ins Feld geführt. Das Foto zeigt Sanitätsfahrerinnen des Frauenhilfsdienstes (FHD) während des Zweiten Weltkrieges. (Foto © Schweizerisches Nationalmuseum)
Was muss ein Museum im 21. Jahrhundert noch leisten?
Wir möchten den Besuchenden ein Werkzeug in die Hand geben, um im Spiegel der Vergangenheit die Gegenwart besser zu verstehen. Ich wünsche mir, dass unsere Gäste erkennen: Entscheidungen, die wir heute treffen, können die Geschichte von morgen beeinflussen – und wie wir sie treffen, hat viel mit der Vergangenheit zu tun.
Hinzu kommt, dass wir unsere Inhalte für ein sehr breites Publikum aufbereiten wollen. Wir möchten zum Beispiel Kinder und Familien abholen. Das ist nicht immer einfach, denn sie haben andere Interessen und werden von Inhalten anders angesprochen als etwa Personen, die sich ganz spezifisch für die politische Geschichte der Schweiz interessieren.
Als ich ein Kind war, fand ich Museen sterbenslangweilig.
Es wäre schade, wenn Kinder und Jugendliche nur mit ihrer Schulklasse ins Museum gehen oder weil die Eltern sie dorthin schleppen. Wir wünschen uns, dass sie auch aus eigenem Interesse kommen. Mit der Games-Ausstellung im Schloss Prangins und unserer aktuellen Schau «Frauen.Rechte» sind wir auf dem richtigen Weg, junge Menschen besser anzusprechen. Das Interesse für beide Themen ist beim jungen Publikum sehr gross.
Sie besitzen grosses Flair für audiovisuelle Medien; für Film und Video sind Sie eine Expertin. Hilft das, die Ausstellungen für ein junges Publikum noch attraktiver zu machen?
Man sollte audiovisuelle Medien nicht bloss einsetzen, weil sie cool sind. Das hätte sogar einen negativen Effekt, weil es die Aufmerksamkeit unserer Gäste von den eigentlichen Inhalten ablenken würde. Digitale Medien sind Werkzeuge wie die Szenografie, das Licht oder die Grafik auch. Sie müssen so eingesetzt werden, dass sie das Narrativ einer Ausstellung unterstützen.
Ich sehe in digitalen Erweiterungen aber tatsächlich grosses Potential, und das Museum der Zukunft wird wahrscheinlich mehr sein als nur das Haus vor Ort. Durch die Corona-Krise haben wir, so schlimm die Zeit für den ganzen Kulturbereich auch war, diesbezüglich viel gelernt. Mit unseren Online-Angeboten ist es uns sogar gelungen, Interessierte im Ausland anzusprechen. Das hat uns riesig gefreut. Hier wollen wir anknüpfen.
Mir gefällt sehr, wie Sie immerzu «wir» sagen, wenn sie über die künftige Ausrichtung des Museums sprechen.
Was mich unter anderem dazu bewegt hat, mich für die Stelle als Direktorin zu bewerben, ist die Möglichkeit, mit vielen Menschen zusammenzuarbeiten. Ich möchte die Entwicklung des Schweizerischen Nationalmuseums gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen gestalten. Darum habe ich auch an der Pressekonferenz anlässlich meiner offiziellen Vorstellung keine ausgearbeitete Vision für die nächsten zehn Jahre präsentiert. Ich möchte sie vielmehr Stück für Stück zusammen mit meinem Team entwickeln.
Um sich eine gemeinsame Vision zu erarbeiten, muss man gut zuhören können – auch bei unangenehmem Feedback …
… eine respektvolle, offene Gesprächskultur ist sehr wichtig! Kritik ist wertvoll, denn sie bringt einen voran. Aktuell planen wir zum Beispiel Publikumsforschung zu betreiben, um herauszufinden, was sich die Menschen vom Museum wünschen. Wir möchten etwa wissen, was sich durch die Pandemie verändert hat oder was Teenager ins Museum locken würde. Und wir möchten auch verstehen, warum manche nicht zu uns kommen. Was wir bei diesen Befragungen lernen, wird direkt in unsere strategischen Entscheidungen einfliessen.
Und konnten Sie schon erste Erkenntnisse gewinnen?
Nein, das geht leider nicht so schnell. Bis wir ein wirklich gutes Bild erhalten haben, wird es wohl rund zwei Jahre dauern. Momentan prüfen wir, welche Methoden der Befragung die aussagekräftigsten Ergebnisse liefern.
Lassen Sie uns zum Abschluss noch einmal an den Anfang unseres Gesprächs zurückkehren, als ich Sie nach Ihrer Heimat gefragt habe. Ich habe den Eindruck, dass das Tessin im Schweizer Kulturdiskurs zu kurz kommt. Auch auf die Gefahr hin, naiv-romantisch zu wirken: Können Sie dem mit Ihrer Arbeit entgegenwirken?
Alle Schweizer Landesteile immer und gleich zu berücksichtigen ist nicht einfach. Im alltäglichen Leben wirkt die Sprache oft als Barriere: Das Tessin ist sehr klein, entsprechend gross ist der Druck, die anderen Landessprachen zu beherrschen. Wenn man zum Beispiel Geschichte studieren möchte, ist man gezwungen Deutsch oder Französisch zu lernen. In den deutschsprachigen Teilen unseres Landes ist das anders: Ich beobachte zum Beispiel, dass manche Deutschschweizer mit Romands Englisch sprechen – das finde ich schade. Es ist ein hohes Ziel, aber ich wünsche mir, dass wir es als Museum schaffen, zum gegenseitigen Verständnis beizutragen und das Interesse aneinander zu stärken. In unserem Blog zum Beispiel publizieren wir alle Texte zumindest auch auf Französisch. Und bei unseren Ausstellungen achten wir darauf, die Geschichte aller Landesteile zu erzählen – wir wollen Menschen aus der ganzen Schweiz ansprechen.
Danke für das offene Gespräch und die persönlichen Einblicke. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Arbeit mit Ihrem Team und freue mich schon sehr auf Ihre erste «eigene» Ausstellung 2023.