Ungeschönte Schönheit

Nadia Bendinelli
1. octobre 2020
Foto: Roberto Donetta, 1900–1932 © Fondazione Archivio Roberto Donetta

Die Fotografie besteht aus zwei Komponenten: ihrer dokumentarischen Qualität und der Subjektivität des Autors. Beim Betrachten erfahren wir daher immer zwei Geschichten; die eine spielt sich vor, die andere hinter der Kamera ab. Das trifft ganz besonders auf Roberto Donettas Arbeiten zu, der zwischen 1900 und 1932 eine erstaunliche Menge an fotografischen Zeitzeugnissen schuf. Bis Mitte der 1980er-Jahre lagen die fast 5 000 Glasplatten (Negative) in einem Stall in der Tessiner Gemeinde Corzoneso – bis sie geborgen, restauriert und digitalisiert wurden. Heute sind sie zusammen mit einigen Originalabzügen, Kontaktabzügen sämtlicher Negative, Reproduktionen, Briefen und zwei Büchern mit Donettas Notizen in der 2003 gegründeten Fondazione Archivio Donetta konserviert.

Das Bleniotal zur Jahrhundertwende

Schon um 1900 entstanden schöne, romantische Bilder, um Touristen in die Tessiner Berge zu locken. Doch von den idyllischen Landschaftsaufnahmen sollte man sich nicht täuschen lassen: Das Leben in der «Valle del Sole» war schwer und hart. Die Menschen waren bitterarm, immer wieder hatten sie mit Hochwasser, Lawinen, schlechter Gesundheitsversorgung und Hunger zu kämpfen. Die mangelhafte, einseitige Ernährung leistete der Ausbreitung von Krankheiten wie Grippe, Cholera, Diphtherie und später Tuberkulose Vorschub. Man ass vorwiegend Kartoffeln oder Kastanien, manchmal auch Polenta oder Brot. Das Trinkwasser war selten sauber. 

Die meisten Talbewohner arbeiteten als Bauern und ernteten knapp genug, um sich selbst zu versorgen. Die Abwanderung ins Flachland war für viele eine verlockende Alternative, wenn nicht gar die einzige Chance, an lukrativere Arbeitsplätze zu gelangen und ein besseres Leben zu führen. Dazu gehörte auch die saisonale Migration: Nach der Kastanienernte ging es für die Männer im September meist nach Frankreich oder Norditalien. Das beliebteste Ziel war Paris. Zurück kamen sie zwischen Januar und Februar. Das Tal hatte dabei nicht nur Marroniverkäufer zu bieten: Die Auswanderer arbeiteten auch als Obstverkäufer, Kellner, Köche, Patissiers oder Hotel-Angestellte. Selbst Kinder galten als wichtige Arbeitskräfte. Viele gingen auf Geheiss der Eltern nach Norditalien, um dort als Kaminfeger zu arbeiten. Sie fortzuschicken, war eine Notwendigkeit: Meist genügte das Einkommen nicht, um alle durchzubringen. 

Foto: Roberto Donetta, 1900–1932 © Fondazione Archivio Roberto Donetta
Fotograf und Samenhändler

Dass in einem so prekären Umfeld überhaupt ein Fotograf zu finden ist, verwundert. Verfügt er noch dazu über Originalität, einen eigenen Stil und grosse Begabung, werden Staunen und Bewunderung umso grösser. Es ist nicht möglich, Roberto Donettas Leben im Detail zu rekonstruieren. Einige Informationen immerhin liefern zwei von ihm verfasste Bücher mit beruflichen Notizen sowie abgeschriebene Dokumente, Briefe und allerlei gesammelte Kuriositäten, die er interessant oder witzig fand. 

Roberto Donettas Geschichte beginnt am 6. Juni 1865 in Biasca. Er heiratete 1886. Mit seiner Frau Teodolinda hatte er sieben Kinder, von denen ein Mädchen nicht das erste Lebensjahr erreichte. Als sein Vater 1891 starb, übernahm Donetta einen Posten als Militärbeamter. Diese Stelle behielt er allerdings nicht lange, und bald wanderte nach London aus, wo er etwa fünfzehn Monaten blieb, um als Verkäufer zu arbeiten. Zurück im Bleniotal wohnte die Familie ab 1901 in der «Casa Rotonda», einem ehemaligen Schulhaus mit rundem Fussabdruck in Casserio, einem Ortsteil von Corzoneso. Jetzt war Donetta als Samenhändler unterwegs: Er wanderte das Tal hinauf und hinunter und war überall als «Roberton» oder der «Somenzatt» – Tessiner Dialekt für Samenhändler – bekannt. Wenig später hatte er auf all seinen Touren einen Fotoapparat dabei, gekauft von geliehenem Geld. Der Beginn einer grossen Leidenschaft.

«La fotografia non basta alla vita»

Was Donetta bewogen hat, sich als Fotograf zu versuchen, darüber lässt sich nur mutmassen. Sicher ist, es geschah aus persönlichen Gründen, denn mit finanziellen Vorteilen konnte er nicht rechnen. Zu dieser Zeit löste die Porträt-Fotografie die Malerei ab. Sie war erschwinglicher und schneller – kurz: Der Wunsch, seine Lieben zu verewigen, wurde für die meisten realisierbar. Trotzdem blieben Donettas Einnahmen aus Porträt-Aufträgen gering. Die Kosten für Platten und Chemikalien konnte er nur mit Mühe stemmen. Hinzu kam immer mehr Konkurrenz aus dem Flachland mit seinen neuen Fotostudios. Roberto Donetta konnte unter anderem mit deren Geschwindigkeit bei der Auslieferung nicht mithalten: Um Geld zu sparen, entwickelte er selten. Als weitere Sparmassnahme beleuchtete er die Negative oft mit zwei Sujets oder stellte die Menschen in einer Reihe auf, um aus einer Fotografie mehrere Einzelporträts zu entnehmen. Trotzdem konnte er nur auf Kredit wirtschaften und später ausschliesslich dank finanzieller Unterstützung der Gemeinde überleben. 

Foto: Roberto Donetta, 1900–1932 © Fondazione Archivio Roberto Donetta
«Sehr geehrter Herr, ich wollte Ihnen schon lange die Miete bezahlen, aber plötzlich löste sich das Geld in Luft auf. Ich konnte nur kleine Arbeiten ergattern, und dann ging die Sonntags-Fotografie nicht gut. Heute muss ich sie bitten, sich zu gedulden bis Februar, wenn das Samengeschäft beginnt. Bis dann begnüge ich mich mit zwei Zimmern, und folglich sollte die Miete entsprechend reduziert werden. Mit sehr herzlichen Grüssen, Roberto Donetta PS: Sie haben auch keine Möglichkeit, mir schnell zu Fotografie-Aufträgen zu verhelfen?»

Roberto Donetta

1912 erschienen drei seiner Arbeiten in der Illustrierten Die Schweiz – ohne Namen. 1927 druckte L’illustré ebenfalls wenige ab – aus ästhetischen Gründen, ohne jeden Bezug zum Artikel. Die Illustrierten publizierten bis 1929 zwar noch weitere Fotografien Donettas, doch das Tessin präsentierten sie lieber mit Bildstrecken orts- und kulturunkundiger Deutschschweizer Fotografen, die ein idyllisches, verklärtes Bild zeichneten. Davon waren Donettas Arbeiten weit entfernt: Er beschönigte die Realität nicht, zeigte nicht bloss schöne Menschen in adretten Kleidern und auch kein «süsses Flanieren» in den Bergen.

All diese Schwierigkeiten machten Donetta besonders erfinderisch und seine Fotografien einmalig. Um Porträts anzufertigen, reiste er im ganzen Tal umher. Anfangs versuchte er noch, eine Studio-Situation zu simulieren, indem er Tücher als Hintergrund benutzte, manchmal zusammen mit einfachen Requisiten. Mit der Zeit befreite er sich von dieser Lösung und fotografierte in der Natur, was für ihn typisch wurde, ihn ausmachte und seine Porträts von anderen deutlich unterschied. Fein ausgedachte Choreographien für Gruppenbilder oder Einzelporträts mit symbolischem Gehalt, religiöse oder bürgerliche Ereignisse, Landschaften und sogar beinahe experimentelle Fotografien – ganz untypisch für diese Zeit – sind in seinem Werk zu finden. Bedenkt man, dass er keinerlei fachliche Ausbildung genoss, war sein Sinn für Komposition und Choreografie erstaunlich ausgeprägt. 

Gerade weil er freier als herkömmliche Fotostudios arbeiten konnte, behielten seine Bilder einen Reportagen-Charakter. Die «unschöne» Realität fand, wie bereits angetönt, Platz. Die Aufnahmen zeigen ein breites Spektrum zwischen Fröhlichkeit und Trauer, Intimität und Öffentlichkeit. Die Anteilnahme des Fotografen ist zu erkennen. Seine Sujets zwang er nicht zu lächeln, bei seinen Hochzeitsaufnahmen spürt man den Zwang, unter dem Ehen eingegangen wurden und der mit Liebe herzlich wenig zu tun hatte. Auch die Last auf den Schultern der Mütter, die sich alleine um Haus und Kinder kümmern mussten, während die Männer im Ausland arbeiteten, ist vielfach zu erkennen. Von seinen Bildern blicken uns erstaunlich viele Kinder an. Die Sterblichkeitsrate der Neugeborene war damals exorbitant – ein Sechstel der Jungen und ein Siebtel der Mädchen überlebte nicht –, weshalb man sie besonders eifrig fotografisch festhielt. Donettas Fotografien ist in gleichem Masse sein humorvolles Wesen, aber auch seine grosse Verzweiflung und Not anzumerken. Diese Direktheit und die ehrliche Darstellung machen sie heute so wertvoll. 

Im Vordergrund standen für Donetta stets seine Bezugsmenschen; zuerst seine Familie, dann die Talbewohner. Als ihn 1912 seine Frau samt den Kindern – bis auf eines – verliess, wurde ihm die Fotografie noch wichtiger und zur einzigen Stütze. Teodolinda waren die ständigen finanziellen Sorgen zu viel geworden: Eine lukrative Arbeitsstelle in der Stadtmolkerei schien ihr ein besseres Leben zu versprechen. Umso schlimmer für Donettas seelische Verfassung, musste er ab Juni 1913 für neun Monate auch auf seine geliebte Fotoausrüstung verzichten: Die hohen Schulden hatten zur Pfändung geführt.

Foto: Roberto Donetta, Selbstporträt, 1900–1932 © Fondazione Archivio Roberto Donetta
«Maximen zum guten Leben. Spaziert jeden Tag zwei Stunden. Schlaft jede Nacht sieben Stunden. Esst langsam und unauffällig. Trinkt nur, wenn ihr Durst habt. Redet nur, wenn es notwendig ist, und sagt auch dann nur die Hälfte von dem, was ihr denkt. Schreibt nur, was ihr unterschrieben könnt. Schätzt das Geld nicht mehr und nicht weniger, als es wert ist.»

Roberto Donetta

Erfolg im Scheitern

Roberto Donetta gehörte fest zur Talgemeinde. Dank seiner beiden Geschäfte wurde er in der Region bekannt. Zugleich aber lebte er als fliegender Händler ausserhalb der Gesellschaft und wurde als Sonderling wahrgenommen. Ambivalenzen scheinen fester Bestandteil seines Wesens gewesen zu sein: Neugierig, wissensbegierig und sehr an modernen Errungenschaften interessiert, blieb er doch konservativ in der Meinung, nur auf landwirtschaftliche Arbeit sei wirklich Verlass – dass seine Kinder Arbeiter wurden, gefiel ihm nicht. Er versuchte sich weiterzubilden und notierte allerlei Interessantes in sein Buch – von witzigen Anekdoten bis zu philosophischen Gedanken. 

Mit der Zeit zog sich Donetta immer mehr zurück. Enttäuschung und Verzweiflung erdrückten langsam sein aufgestelltes Wesen. Als er schliesslich 1932 lange nicht mehr gesehen wurde, kletterte ein Nachbar über ein Fenster in die «Casa Rotonda» und fand ihn tot. 

Diese Geschichte mag traurig sein – und doch ist sie Beweis dafür, dass trotz widrigster Umstände und nicht enden wollenden Schwierigkeiten Talent und die Hingabe zur eigenen Kunst ein beeindruckendes Werk ermöglichen. Vielleicht gerade deswegen ist sie auch schön – und ermutigend.

Auf der Website der Fondazione Archivio Roberto Donetta sind sämtliche Bilder des Tessiners zu sehen. Nur zehn Prozent der gefundenen Platten waren datiert, so tragen die Abzüge meist den Vermerk «Entstehungsdatum 1900–1932».
 
Mehr Hintergründe zum Leben und Schaffen des Fotografen liefert das Buch «Roberto Donetta – Fotograf und Samenhändler aus dem Bleniotal» von Gian Franco Ragno und Peter Pfrunder, das im Limmat Verlag erschienen ist.

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