Wo bin ich hier?

Manuel Pestalozzi
20. juin 2019
Welche Gesinnung, welche Kultur repräsentiert dieses «Stadtzentrum»? Keine einfache Frage. (Visualisierung: UNStudio)
Global statt lokal

Mit dem International Style wurde der Öffentlichkeit anfangs der 1930er-Jahre zum ersten Mal in der Geschichte eine architektonische Haltung präsentiert, der man eine globale Gültigkeit attestierte. Ob am Nordkap oder im tropischen Dschungel, ob in einer Wüstenoase oder auf einem fernen Atoll – diese Architektur wurde vorgeblich jeder Situation und jedem Bedürfnis gerecht. Die einzelnen Bauten entsprangen dem selben Geiste, was man ihnen auch sofort ansah. Das war durchaus erwünscht, denn jene, die sie in Auftrag gaben und nutzten, wollten ja zur modernen, aufgeschlossenen Gesellschaft gehören. Eine Vision drängte sich da förmlich auf: Endlich werden alle Menschen Brüder!

Grenzenlos wurden die Einsatzgebiete der modernen Architekt*innen: Le Corbusier baute in Indien, Ludwig Mies van der Rohe in Mexico, Louis Kahn in Bangladesch, Oscar Niemeyer in Frankreich und Alvar Aalto im deutschen Wolfsburg. Es war der Anfang einer Epoche der «Helikopterarchitektur», die bis heute fortdauert und sich keineswegs auf die grossen Stars beschränkt: Architekt*in fliegt ein, blickt sich um und fertigt dann einen Entwurf an. Sprachliche Hindernisse und eine generelle «Kulturfremdheit» in Bezug auf den Standort spielen dabei weiter keine Rolle, denn man sieht sich als Teil einer globalen Gemeinschaft, die ein gemeinsames Fundament des Verstehens und Wertschätzens pflegt. Woraus dieses Fundament besteht und wie gut es trägt, darüber hört man eher wenig.

Das Parlamentsgebäude in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka wurde vom Amerikaner Louis Kahn entworfen. Es hat den Anspruch, global verstanden zu werden. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Viele dieser «Helikopterprojekte» sind in ihrer Ausstrahlung durchaus erfolgreich – man denke nur an das Opernhaus von Sydney oder auch das Centre Pompidou in Paris, Wahrzeichen in Weltstädten, geplant von Auswärtigen. Allerdings sind dies herausragende Einzelprojekte, die mindestens so sehr für sich stehen wie für den Standort. Weitaus heikler dürfte die Situation bei Projekten sein, die tief in den Mechanismus eines Siedlungsgebietes eingreifen und jenseits der Festtage oder der Freizeit das Leben der Menschen prägen, die sich in ihnen aufhalten.

Es gibt Büros, die sich selbst in diesem Fall zutrauen, an fernen Gestaden das Richtige zu tun und die bestmögliche Lösung zu produzieren. Herausragend unter ihnen ist UNStudio aus Amsterdam. Das Büro, welches in den 1980er-Jahren von Ben van Berkel und Caroline Bos gegründet wurde, vertritt den globalen Ansatz exemplarisch: Auf seiner Webseite findet man Projekt in Australien, Singapur, Südkorea, Katar, Hongkong, Georgien und vielen weiteren Ländern. Und kürzlich gab UNStudio die Erarbeitung eines Masterplans für das Karle Town Centre in Bangalore, Hauptstadt des südindischen Bundesstaates Karnataka, bekannt. Dieser Beitrag betrachtet das Vorhaben im Lichte der eben beschriebenen Verhältnisse.

Schattendiagramm zum Ensemble des Karle Town Centre (Grafik: UNStudio)
Die Sicht der Entwerfenden

In seiner Pressemitteilung erinnert UNStudio daran, dass Bangalore als «Silicon Valley Indiens» bekannt sei; in der schnell wachsenden Stadt sind viele IT-Unternehmen beheimatet. Mitten in diesem aufstrebenden Tech Hub hat UNStudio das neue Karle Town Centre (KTC) entworfen. Mit an Bord ist UNSense, eine arch tech company, die von UNStudio gegründet wurde und eine Art technisch versierte Recherche- und Analyse-Einheit bildet. Zusammen mit der Bauherrschaft, dem Entwickler Karle Infra, hat UNSense die Verwendung von «sensorischen Technologien» quer durch das KTC «kuratiert».

UNStudio bezeichnet das KTC als Entwicklung, die Bangalore mit einer örtlichen Identität versieht. Dieser Tech Campus soll ganz Indien als Inspiration dienen, wenn es darum geht, künftige urbane Schwerpunkte zu setzen. Solche Inspirationsquellen täten Not, ist das Team von UNStudio überzeugt, denn man nehme eine globale «urbane Stagnation» wahr. Diese verlange nach Antworten auf die drängende Frage: Wie bringen wir Begabung, Familien und Investitionen zurück in die Herzen dieser Städte? Das KTC präsentiert das Büro als angemessene Antwort.

Die schräge Wabe als Identifikationsmodul – Darstellung aus dem «Urban Branding Manual» für das KTC. (Zeichnung: UNStudio)
Stadtkultur aus dem Handbuch

Integraler Bestandteil des Masterplans für das KTC ist das Büchlein «The Urban Branding Manual». Es ist ein entscheidender Faktor für die Gestalt des künftigen Zentrums. Über den Formfindungsprozess, der den Darstellungen zugrunde liegt, schweigt sich UNStudio aus. Man beschränkt sich auf den Hinweis, dass in diesem Leitfaden detaillierte Gestaltungs-Bestandteile in einem «quantitativen selektiven Prozess» analysiert werden. Das Handbuch stellt, so UNStudio, «die Integrität der Gestaltung sicher und sorgt dafür, dass die städtische Vision korrekt umgesetzt wird». 

Besonderes Merkmal der «Vision» sind monumentale Rahmen mit abgerundeten Ecken und Kanten, welche Geschosse und «Vegetationsnester» in ausgewählten Randbereichen einfassen. Die Rahmen schweben über Sockelbereichen und werden teilweise auch übereinander gestapelt. Unwillkürlich denkt man an kleinere technische Objekte, die zur massstabslosen, futuristischen Megastruktur aufgeblasen wurden. So soll das KTC, wie UNStudio es darstellt, aus Bangalores dichtem grünem Blätterdach in die Höhe empor wachsen, als Serie von gebrandeten, zeitgenössischen Bauwerken, welche die Skyline der Stadt bilden. Die dynamischen Volumen, gestrichen in «Coolest White», das von UNStudio und Monopol Color patentiert wurde, sorgen für die passende Identität.

Die fremde Welt in einem Abenteuer von Flash Gordon (Reproduktion via comicskingdom.com)
Globaler Pop

Es gibt keinen Grund für Zweifel: Der Masterplan für das KTC ist ein ästhetisch, urbanistisch und wissenschaftlich gründlich durchdachtes Konzept. Aber es fällt schwer, ihm eine klare kulturelle Bedeutung zuzuweisen. Versucht man sie herzuleiten, kommt man zum Urteil: Die so sorgfältig ausgetüftelte und mit der gebotenen Dramatik visualisierte «Schöne neue Welt» wirkt eigenartig ältlich. Man denkt zurück an die Schaffensphase von Archigram in den 1960er-Jahren. Das britische Kollektiv orientierte sich wiederum an Comics, die ihren Ursprung in den 1930er-Jahren hatten, in einer Zeit, da am selben Ort der Begriff International Style geprägt wurde. Mit etwas Boshaftigkeit könnte man von einem Doppelschritt-Retro-Stil sprechen. Was bei Archigrams Gestaltungen noch ein ironischer Kommentar war, wird im KTC allerdings zum Ernstfall.

Der Masterplan kann so als ein Kind der globalen Popkultur gesehen werden, die in den vergangenen 80 Jahren von den USA her kommend die Welt eroberte. Es sind nicht mehr die gestrengen Meister*innen des CIAM, welche hier das Zepter schwingen, sondern Fachkräfte die eine full Immersion in der Popkultur genossen haben. Und Zukunft heisst dort nun einmal Science-Fiction. Wer angesichts der KTC-Mitteilung den Vergleich mit der phantastische Welt von Flash Gordon wagt, trifft alsbald auf den Planet Mongo. Dort gibt es Dinosaurier und Steinzeitmenschen, aber auch hoch entwickelte Zivilisationen. Diese leben in dichten Hochhaus-Clustern, die auf podestartigen Sockeln thronen, Inseln der Hochkultur, die sich deutlich von ihrer Umgebung abgrenzen. Die Natur ist auf dem Planet Mongo eher bedrohlich und ein Gegenpart der Zivilisation. Flash Gordon sorgt hüben und drüben für Ordnung.

Im Vordergrund: Der Nagavara-See, Überbleibsel eines Staudammsystems aus dem 16. Jahrhundert. Wie gut kennen die Architekt*innen die ökologischen und soziokulturellen Realitäten vor Ort? (Visualisierung: UNStudio)
Bodenhaftung?

Bei aller Poppigkeit ist der Bezug zur Umgebung selbstverständlich ein wichtiger Aspekt des KTC. Zwar ist Karle Infra, die treibende Kraft hinter dem Projekt, ein privater Investor, die Informationen zum Projekt berechtigen allerdings nicht zur Annahme, dass hier eine Gated Community entsteht, die sich analog zu den Städten auf Mongo konsequent abgrenzt. Trotzdem stellt sich die Frage, wie stark das Gestaltungsteam mit den lokalen Bedingungen vertraut ist und auf sie eingehen konnte. Auf Satellitenaufnahmen betrachtet, bildet Bangalore ein Flickwerk von Flächen. Sind sie bebaut, werden sie oft als «Layout»bezeichnet. So liegt das KTC jenseits der nördlichen Ringstrasse der Stadt, auf einer Linie zwischen dem Rajiv Gandhi Layout und dem Dr. Bendra Layout. Die Namen haben einen Bezug zur jüngeren Geschichte Indiens aber nicht zur engeren Region – es wird mit diesen Quartieren offenbar «Geschichte geschrieben».

Wesentlich älter ist der Nagavara-See, der das KTC nach Westen hin begrenzt. Er geht auf ein ganzes System von Seen zurück, das im 16. Jahrhundert durch das Anlegen von Dämmen geschaffen wurde und aufgrund des Wachstums der Stadt später teilweise wieder beseitigt. Heute bietet der Nagavara-See zahlreiche beliebte Freizeitangebote, man braucht im Internet aber nicht lange zu suchen, um auf Webseiten zu stossen, auf denen sein Zustand mit Besorgnis kommentiert wird. Auch die Tageszeitung Times of India hat ihm bereits vor Längerem einen Beitrag gewidmet. Dieser weist nicht nur auf ökologische Probleme hin (der See ist überdüngt und droht zu verlanden), sondern streift auch die teils schwierigen sozialen Verhältnisse. So gibt es auf dem See Berufsfischer, die sich über die Emissionen von Ausflugsbooten beklagen. 

Weiss das Gestaltungsteam, auf welche ökologisch und gesellschaftliche Gemengelage es sich eingelassen hat? Dieser Gedanke drängt sich beim Lesen seiner Medienmitteilung förmlich auf. Der Verdacht, dass die Distanz zwischen Helikopter und Boden nie ganz überbrückt wurde, lässt sich nicht leicht zerstreuen.

Gartenlandschaft und fröhliche Familien im KTC (Visualisierung: UNStudio)

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