Zwischen Orient und Okzident: Reise durch Georgien

Susanna Koeberle
11. juillet 2019
Das frühere Ministerium für Strassenbau (heute Georgische Staatsbank) von Giorgi Tschachawa gilt als Architekturikone. (Foto: Susanna Koeberle)

Wir kommen nach Mitternacht in Tiflis an. Schon oder noch halb schlafend blicke ich aus dem fahrenden Taxi in eine schemenhaft erscheinende Landschaft, kurz danach sehe ich die ersten Lichter der Stadt. Die Bauten wirken vertraut und fremd zugleich, viele europäisch, gewisse wiederum orientalisch, einige modern und gläsern, andere alt und bröckelnd. Alles sehr divers. Unsere Unterkunft, die «Writers’ House Residency», befindet sich im obersten Stockwerk eines Hauses aus Ende des 19. Jahrhunderts, das einst dem Philanthropen David Sarajishvili gehörte. Ich habe den Eindruck, in einer Filmkulisse gelandet zu sein. Träume ich schon? Am nächsten Tag wird deutlich: Tiflis (oder Tbilissi, was auf Georgisch «warme Quelle» heisst) ist tatsächlich ein Amalgam vieler Ethnien und Traditionen. Die bewegte Geschichte Georgiens, in dem alle möglichen Kulturen «gewirkt» haben, widerspiegelt sich auch in der Vielschichtigkeit der Architektur, das werden wir auch auf unseren Ausflügen erleben. Es gibt kaum ein Land, das so häufig überfallen und besetzt wurde, die Geschichte Georgiens liest sich wie eine Mischung aus Fantasy- und Kriminalroman. Da waren die Römer, die Perser, die Byzantiner, die Mongolen, die Osmanen, später dann die Russen. Dazwischen gab es immer wieder Zeiten der Unabhängigkeit; seit 1991 (nach 70 Jahren sowjetischer Herrschaft) ist das Land wieder unabhängig und sucht Anschluss an die EU. Ganz unkompliziert ist die politische Lage allerdings nicht, wie die so genannte Rosenrevolution von 2003, der Kaukasuskrieg 2008 sowie die aktuellen Unruhen zeigen. 

Georgien liegt strategisch günstig, daran hat heute vor allem Russland Interesse (in erster Linie am direkten Zugang zum benachbarten Staat Aserbaidschan mit seinem Erdöl- und Erdgasvorkommen), doch schon früher führten viele Handelswege (wie etwa die Seidenstrasse) durch dieses Land, davon zeugen archäologische Funde. Die frühe kulturelle Bedeutung dieses Gebietes zeigt sich auch an den Spuren des Weinbaus, die bis auf die Zeit um 8000 v. Chr. zurückgehen. Die kulturellen und wirtschaftlichen Blüten der Stadt am Kaukasus sind immer noch spürbar, auch wenn die ökonomische und politische Situation aktuell instabil ist. Viele Menschen sind arbeitslos und kämpfen sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben. 

Das Kloster Dawit Garedscha aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. steht auf der Vorschlagsliste des UNESCO-Welterbes. (Foto: Susanna Koeberle)

Wie etwa unser Fahrer, ein ehemaliger Ingenieur, der uns zum Höhlenkloster Dawit Garedscha (6. Jh. n. Chr.) an der aserbaidschanischen Grenze fährt, nach Sighnaghi (im dortigen Museum sind viele Bilder der georgischen Künstlers Niko Pirosmani zu sehen) sowie tags darauf nach Rustawi. Dass wir die Stadt sehen möchten, die Stalin zwischen 1944 und 1948 erbauen liess, um Arbeiter des riesigen Stahlwerks unterzubringen, kann er überhaupt nicht nachvollziehen. Er bezeichnet diese Industriestadt als «hässlich», obwohl er dann vor Ort bei jeder Bauzeile ins Erzählen kommt und den Stalin-Wohnhäusern im Vergleich zu den Plattenbauten der Nachkriegszeit immerhin eine gewisse Wohnqualität attestiert. Der Zugang zu den (ehemaligen) Produktionsstandorten wird uns aber verwehrt. Der Direktor habe nein gesagt, heisst es an der Sperre. Rustawi steht definitiv nicht zuoberst auf der To-Do-Liste von Touristen. Zu sehen gibt es aber viel in diesem eher kleinen Land, auch Schönes, gerade Klosterbauten gehören zu den eindrücklichen Sehenswürdigkeiten Georgiens. Schliesslich ist das Christentum seit 337 n. Chr. Staatsreligion. Georgien ist damit eine der ältesten christlichen Nationen der Welt. Man spürt den Stolz der Georgier auf ihr Land, auf seine Eigenheit und Vielfalt. Das kann auch groteske Züge annehmen, wie etwa beim Josef-Stalin-Museum in Gori, einem der absurdesten Museen, das mir jemals begegnet ist. 

 

Das Hauptverwaltungsgebäude des Stahlwerks in Rustawi. (Foto: Susanna Koeberle)
Die Häuser, die Stalin in den 1940er-Jahren erbauen liess, werden teilweise renoviert. Die Stadt wirkt aber tendenziell ausgestorben. Seit der Schliessung eines Grossteils der Öfen verliessen sie viele Menschen. (Foto: Susanna Koeberle)

Doch der Reihe nach. Unser erster Ausflug führt uns nach Tserovani, in eine Siedlung von georgischen Flüchtlingen aus Südossetien oder Internally Displaced Persons (IDP). Die Menschen leben seit 2009 in kleinen Häuschen, welche die georgische Regierung zur Verfügung stellt. Wir besuchen einen Holzschnitzer, der eine Werkstatt und Schule führt. Im Rahmen eines NGO-Projektes arbeitet die Handwerkergemeinschaft an verschiedenen Objekten, die im Herbst erstmals ausserhalb von Georgien gezeigt werden sollen. Zusammen mit einer Übersetzerin vom GACC (Georgian Arts & Culture Center) besprechen die Designerin und der Projektleiter die Stücke. Stolz zeigt mir Zaza «sein» Museum mit allerlei Holzartefakten, die er aus Südossetien mitgenommen hat. Er legt Wert darauf, dass diese Objekte erhalten bleiben, sie erzählen von Traditionen und Geschichten. An einer Wand hängt eine Art Ahnengalerie mit Helden der georgischen Kultur, von der Königin Tamar (die im 12. Jahrhundert an der Macht war) bis zu einem Landsmann, der während der Sowjetzeit Kulturgüter nach Frankreich brachte und damit rettete. 

Nach einem anstrengenden Tag in der Werkstatt mit über 36 Grad und einem Besuch im Jvari Kloster aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. (Unesco Weltkulturerbe) sind wir hungrig und verköstigen uns in einem sympathischen Restaurant in Tiflis. Auch die Küche reflektiert die Diversität der Kulturen. Wir bekommen Teigtaschen und knödelartige Gemüsebällchen serviert, eine Art georgische Pizza (Chatschapuri), es gibt Käse in allen möglichen Varianten. Dank der vielen Gemüsespezialitäten kann man bestens fleischlos essen. Auch der georgische Wein (meist Naturwein) mundet.

Der Holzschnitzer Zaza hat sein eigenes kleines Museum errichtet. Dort finden sich traditionelle, handwerkliche gefertigte Objekte, fast alle aus Holz. (Foto: Susanna Koeberle)

Am zweiten Tag erkunden wir nach einem erneuten Besuch bei Zaza weitere Orte: Die Stadt Gori und die Höhlenstadt Uplisziche. In Gori besichtigen wir auch das Josef-Stalin-Museum, ein palastartiges Gebäude im Stil der stalinistischen Gotik aus 1951 und bis heute wichtige Touristenattraktion (vor allem für Russen). Gori war die Heimatstadt des russischen Diktators, das erklärt diese museale Form der Erinnerung, dennoch befremdet die ungefilterte Beweihräucherung eines Massenmörders. Es gibt sogar einen Souvenirshop mit Stalin-Konterfeis auf Totebags, T-Shirts und Trinkflaschen! Nach dem Kaukasuskrieg 2008 gab es den Plan, das Museum in ein «Museum der russischen Aggression» umzuwandeln, das Vorhaben der Neugestaltung scheiterte aber. Erinnerung ist häufig nur möglich, wenn etwas Sichtbares stehen bleibt, den entsprechenden Kontext müsste allerdings das Museum mitliefern, sonst droht Geschichtsverfälschung. 

Viele Mosaike aus der Sowjetära bröckeln vor sich hin, andere sind besser erhalten wie dieses an der Hausfassade neben dem Stahlwerk in Rustawi. (Foto: Susanna Koeberle)

Viele Bauten aus dem Stalinismus sowie aus der späteren Sowjetmoderne werden abgebrochen, man möchte Abstand gewinnen und diese Zeit hinter sich lassen. Das ist zwar verständlich, aber aus architektonischer Sicht auch schade, zumal die Architektur dieser Epoche einen ganz eigenen Charakter hat. Wertvolle Mosaike und andere Bauwerke aus dieser Zeit bröckeln vor sich hin, ganze Bauten wie etwa das archäologische Museum (1982 – 1988) stehen leer oder wurden anderen Zwecken zugeführt. Das ehemalige Ministerium für Strassenbau (1970 – 1975), schon fast eine Architekturikone, ist seit 2007 Sitz der Georgischen Staatsbank, die den Bau schrittweise renovieren liess. Seit der Unabhängigkeit Georgiens nach dem Zerfall der Sowjetunion regt sich wieder neues bauliches Treiben. Das ist sicher als positives Zeichen und Aufbruch zu werten, brachte aber zugleich viel Unsicherheit. Die Rolle des Architekten musste neu definiert werden. Konkret heisst das auch, dass viele ausgebildete Architekt*innen gar nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten können. 

Das Archäologische Museum von Schota Kawlaschwili (1982 – 1988) wurde nie als solches in Betrieb genommen. (Foto: Susanna Koeberle)

Auch der Umgang mit alter Bausubstanz ist ein Thema, das gerade in Tiflis zentral ist. Ganze Teile der Altstadt zerfallen, saniert wird häufig schnell und lieblos, teilweise werden historische Bauten auch einfach abgebrochen. Es ist vielleicht etwas zu früh, um von einer Gentrifizierung zu sprechen, aber der Trend geht in diese Richtung. Auch Architekt*innen aus dem Westen scheinen Tiflis als Tummelplatz ihrer baulichen Fantasien entdeckt zu haben, manchmal sind die Resultate gelungener, zuweilen erscheinen diese modernen Bauwerke jedoch beliebig oder schlicht deplaziert, so etwa das mehrteilige Servicezentrum von Studio Fuksas (2011 – 2013), das aussieht wie ein im Pilzrausch entworfenes Ensemble. Bei einem Rundgang durch Tiflis sticht das Nebeneinander von Alt und Neu besonders ins Auge, die fast palimpsestartige Schichtung von architektonischen Zeugnissen macht die 1,2-Millionen-Metropole (die Zahl scheint eher tief geschätzt angesichts der Ausdehnung der Stadt) zu einem abenteuerlichen Flickwerk. Dazu trägt schon die ungewöhnliche topographische Lage von Tiflis bei, einer Stadt am Fluss umringt von Bergen. Die Stadt ist ein kultureller Schmelztiegel, eine Nahtstelle zwischen Asien und Europa, in der es unglaublich viel zu erkunden gibt. Wer einmal dort war, wird zurückkehren.

Das Jvari Kloster aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. gehört zum Unesco Weltkulturerbe. (Foto: Susanna Koeberle)
Uplisziche ist eine Festungs- und Höhlenstadt aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. (Foto: Susanna Koeberle)

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