Tradition, Adaption, Roboter: Das MoMA zeigt zeitgenössische Architektur aus China

Eduard Kögel
1. octobre 2021
DnA_Design and Architecture, Bambus-Theater, Songyang (Foto: Wang Ziling)

Die Spannungen zwischen etlichen westlichen Ländern, insbesondere den Vereinigten Staaten, und China wachsen derzeit. Grund sind neben weltanschaulichen und ethischen Differenzen letztlich wohl vor allem sich verschiebende machtpolitische Kräfteverhältnisse. Just zu diesem Zeitpunkt wendet sich das Museum of Modern Art (MoMA) zum ersten Mal überhaupt zeitgenössischer Architektur aus China zu – und zeigt, dass es in dieser Disziplin viele gemeinsame Themen gibt. Wie der Ausstellungstitel bereits verrät, geht es um Recycling und Erneuerung, also Aufgabenfelder, die aktuell auch die Architekt*innen in unseren Breiten beschäftigen. Gezeigt werden in New York acht Projekte von sieben unabhängigen Büros. Sie befassen sich mit der Umnutzung ehemaliger Industriegebäude, dem Recycling von Baumaterialien, der Neuinterpretation historischer Bautechniken, experimentellen Umnutzungen traditioneller Bauten im städtischen Kontext und dem Bauen im nach wie vor ruralen Hinterland der grossen Metropolen Chinas. Insgesamt stehen also Themen im Fokus, die vor dem Hintergrund des Klimawandels in Zukunft weltweit weiter an Bedeutung gewinnen werden.

Das Büro Amateur Architecture Studio aus Hangzhou, das der Pritzker-Preisträger Wang Shu und seine Partnerin Lu Wenyu betreiben, ist als einziges mit zwei Projekten vertreten: Das eine ist ein kleiner Pavillon, den das Team zwischen 2004 und 2006 in Jinhua geplant und gebaut hat. 2002 hatte der Künstler Ai Weiwei nationale und internationale Architekt*innen eingeladen, in einem öffentlichen Park entlang des Flusses eine Reihe von Pavillons zu entwerfen. Für Teile der Fassade entwickelte das Büro ein Raster aus handgemachten und individuell eingefärbten Keramikziegeln. Mit diesem Demonstrationsprojekt verbanden sie handwerkliche Tradition mit zeitgenössischer Architektur. In der Ausstellung wird ein Mock-up der Fassade gezeigt. Das zweite Projekt von Amateur Architecture Studio befasst sich mit der Wiederbelebung des Dorfes Wencun, in dem das Büro bestehende Häuser renovierte und neue Wohnhäuser, Brücken, Pavillons sowie eine Schule realisierte. Die Bauten wurden mit lokalen Ressourcen wie Stampflehm, Bambus und Kalkstein ausgeführt.

Präsentation der Baumassnahmen im Dorf Wencun, die das Team von Amateur Architecture Studio durchgeführt hat. (Foto: John Hill)
Amateur Architecture Studio, Mock-up im MoMA (Foto: John Hill)

Atelier Deshaus (Liu Yichun & Chen Yifeng) ist mit dem privaten Long Museum am West Bund in Shanghai in der Ausstellung präsent. Das 2001 gegründete Atelier, dessen Namen sich aus «Dessau» und «Bauhaus» zu «Deshaus» zusammensetzt, hat das Museum 2014 fertiggestellt. Bei dem Projekt wurde eine Brücke aus den 1950er-Jahren, über die einst Kohle transportiert wurde, integriert. Zudem wurde eine zweigeschossige Garage auf dem Grundstück zu Museumsräumen umgenutzt. Heute ist das Long Museum eines der wichtigsten Museen für zeitgenössische Kunst in China. 

Ebenfalls am West Bund befindet sich die 2016 von Archi-Union Architects (Philip F. Yuan) entworfene Chi She Galerie. Für das Bauwerk wurde ein abbruchreifes Lagerhaus ertüchtigt. Aus vorgefundenen Ziegeln entstand ausserdem eine dreidimensionale, perforierte Fassade. Die experimentelle Verbindung zwischen traditionellem Material und extravaganter Form konnte in dieser Präzision nur durch den Einsatz von Robotern erreicht werden. 

Das in Peking beheimatete Büro Vector Architecs (Gong Dong) ist im MoMA mit dem 2018 fertiggestellten Alila Hotel nahe der Stadt Guilin vertreten, die wegen der imposanten Karstberge in der Umgebung eine beliebte Touristendestination ist. Die Architekten nutzten eine verlassene Zuckerfabrik aus den 1960er-Jahren um und erweiterten sie mit einem Bettenhaus. Durch die äussere Form des Baus und die Nutzung einheitlicher Materialien werden Neubau und Bestand zusammengefasst.

Atelier Deshaus, Long Museum, Shanghai (Foto: Su Shengliang)
Archi-Union Architects, Chi She Gallery, Shanghai (Foto: Bian Lin)

Das Büro ZAO/standardarchitecture (Zhang Ke) ist mit einem experimentellen Mikro-Hutong vertreten. Der Umbau eines kleinen Hofhauses in Peking erlaubt neue Nutzungen für die lokale Gemeinschaft. Das Projekt steht stellvertretend für die Arbeit des Büros in der Altstadt der Metropole. Dort hat das Team weiteren traditionellen Hofhäuser mit behutsamen Eingriffen neues Leben eingehaucht. Gerade dort, wo alte eingeschossige Baustrukturen aufgrund des enormen Bodenwertes unter extremem Druck stehen, bedarf es neuer Ansätze, um baukulturell wertvolle Typologien für die Zukunft zu erhalten.

Das Studio Zhu-Pei, das ebenfalls in Peking seinen Sitz hat, ist im MoMA mit dem spektakulären Imperial Kiln Museum vertreten, das 2020 in der Porzellanstadt Jingdezhen eröffnet wurde. Zhu Pei verwendete für die Gewölbe recycelte Ziegelsteine aus den Brennöfen, die aus technischen Gründen alle zwei bis drei Jahre erneuert werden müssen. Er übernimmt damit eine Nachnutzung, die von der lokalen Bevölkerung schon seit Jahrhunderten praktiziert wird. Aber auch hinsichtlich Geometrie, Struktur und Materialität hat sich der Architekt von den Brennöfen inspirieren lassen. 

Das poetischste Projekt mit dem kleinsten Eingriff kommt vom Büro DnA_Design and Architecture, das von Xu Tiantian betrieben wird: das Bambus-Theater in der Region Songyang. In der Gegend ist es gelungen, den Menschen in vielen Dörfern mit kleinen Interventionen ein neues Selbstverständnis zu geben. Inspiriert von einem Rollbild des Malers Qiu Ying aus dem 16. Jahrhundert, das zeigt, wie der schnell wachsende Bambus durch geschicktes Zusammenbinden einen kreisrunden Naturraum definiert, entstand ein Bühne für die Operngruppe im Dorf Hengkang.

Vector Architects, Alila Hotel nahe Guilin (Foto: Su Shengliang)
ZAO/standardarchitecture, Mikro-Hutong, Peking (Foto: Wu Qingshan)

Die Projekte entstanden über einen Zeitraum von circa zwanzig Jahren und reflektieren auf unterschiedliche Weise die Themen Erneuerung und Recycling, die auch in China mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Die Grösse der gezeigten Projekte macht deutlich, dass es sich in China bislang eher um Nischenthemen handelt. Der gigantischen Herausforderung der Sanierung der urbanen Megastrukturen und der erneuerungsbedürftigen Wohnhochhäuser aus den 1980er- und 1990er-Jahren müssen sich Chinas Architekt*innen in einem nächsten Schritt erst noch annehmen. Dass dies in den kommenden Jahren geschieht, ist allein schon wegen der enormen Menge an grauer Energie vonnöten, die in den grossen Bestandsgebäuden gebunden ist. Für die Architekturschaffenden im Reich der Mitte ist es wichtig, dass ihre guten Ansätze nun auch im MoMA in New York und somit im Westen gezeigt werden. Denn dadurch gewinnen sie in ihrem Heimatland an Bedeutung. 

Die Ausstellung kam übrigens auch mit Schweizer Beteiligung zustande: Sie wurde organisiert von Martino Stierli, dem Chefkurator der Architektur- und Designabteilung des MoMA, und seinem Kollegen Evangelos Kotsioris. Li Xiangning von der Tongji Universität in Shanghai beriet die beiden Kuratoren. Die Schau kostet keinen Eintritt und kann ohne Zeitticket besucht werden. 

Studio Zhu-Pei, Porzellanmodel des Imperial Kiln Museum im MoMA (Foto: John Hill)

Die chinesische Architektin Zhang Xi arbeitet in China und der Schweiz. Wir haben mit ihr über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihrer Heimat und Mitteleuropa gesprochen.

Der chinafreundliche Journalist Frank Sieren befasst sich in seinem spannenden Buch «Zukunft? China!» mit der Entwicklung des Landes. Er sieht das Reich der Mitte in jeder Beziehung auf der Überholspur und glaubt, dass Europa den Anschluss schon nahezu verloren hat.

Auch in Europa werden Roboter zum Mauern eingesetzt – zum Beispiel von den Schweizer Keller Ziegeleien. Darüber haben wir mit ROBmade-Produktmanager Samuel Cros gesprochen.

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