Öffentlicher Raum? Warum wir lieber vom öffentlich gemachten Raum sprechen sollten

Elias Baumgarten
20. aprile 2023
Foto: Elias Baumgarten

Die Knappheit an Boden, der Mangel an erschwinglichem Wohnraum, wachsende soziale Spannungen, die Alterung unserer Gesellschaft, der Klimawandel und die Gestaltung der Verkehrswende – Architektur und Stadtplanung stehen heute vor kolossalen Herausforderungen. Zu diesen gehört auch die Gestaltung attraktiver öffentlicher Räume, die die Stadt zu einer wertvollen Lebenswelt machen. Doch wie entstehen Orte, an denen das Leben pulsiert und Menschen sich gerne aufhalten? 

Architektinnen und Architekten sind vielfach der Auffassung, der Grad an Öffentlichkeit eines (Stadt)Raumes sei durch dessen Gestaltung vorbestimmt. Deswegen zeichnen sie gerne vorhandene Stadträume nach, die sich in ihrer Wahrnehmung als besonders «gut» erwiesen haben. In den Sozialwissenschaften dagegen wird meist davon ausgegangen, dass menschliches Handeln Raum bestimmt und dass Raum gesellschaftlich konstruiert ist. Philippe Koch, Stefan Kurath und Simon Mühlebach unterdessen versuchen in ihrer Forschung am Institut Urban Landscape der ZHAW, eine ganzheitliche Perspektive zu bewahren und sich von Glaubenssätzen frei zu machen. Sie gehen von einer Wechselwirkung zwischen der Materialisierung und Anordnung räumlicher Elemente und deren Aneignung durch die Menschen aus. Ihr Buch «Figurationen von Öffentlichkeit. Herausforderungen im Denken und Gestalten von öffentlichen Räumen» zeigt mithilfe von Beobachtungen des Alltags, wie wertvolle Stadträume für alle entstehen.

Foto: Elias Baumgarten

Für das Buch wurden vier Orte unter die Lupe genommen: der Lagerplatz in Winterthur, der Murg-Auen-Park im benachbarten Frauenfeld, der Europaplatz in Bern und der Richtiplatz in Wallisellen. Sie alle wurden kürzlich umgestaltet. Und alle gelten sie nach Meinung der Mehrheit der Expertinnen und Experten als gelungen. Bemerkenswert ist, dass sie sich programmatisch, hinsichtlich ihrer Lage und auch in Bezug auf die Besitzverhältnisse unterscheiden. Jeder der vier Räume wird mit einem mehrseitigen Porträt vorgestellt, das – auf farbigen Seiten vom Rest des Buches abgehoben – jeweils einen Abriss der Planungsgeschichte des Ortes, Fotos, Pläne und ein Interview mit an der Planung Beteiligten umfasst.

Die Wechselwirkung zwischen Gestaltung und Aneignung wurde jeweils aufwendig untersucht. So wurde zum Beispiel beobachtet, wie Menschen den Raum nutzen. Mittels eigens aufgestellter Bluetooth Sniffer wurden Personenströme und Nutzungsintensitäten gemessen. Aber auch beispielsweise eine Analyse der medialen Rezeption der vier Stadträume wurde vorgenommen, und das Forscherteam der ZHAW wertete Instagram-Beiträge aus. Schliesslich gehörten auch traditionellere Methoden wie Planaufnahme und Fotografie zur Untersuchung. Als Besonderheit wurden auch die Auswirkungen des Corona-Lockdowns nachvollzogen, der in die Entstehungszeit der Publikation fiel.

Foto: Elias Baumgarten

Doch was lässt sich von der Lektüre des erfrischend fröhlich gestalteten Buches mitnehmen? Die vielleicht wichtigste Erkenntnis besteht darin, dass Öffentlichkeit sich nicht planerisch oder juristisch beziehungsweise politisch verordnen lässt. Sie entsteht vielmehr aus der komplexen und veränderlichen Beziehung zwischen räumlichen Elementen und Menschen. Es ist nicht zielführend, über Gestaltung oder Etiketten Verhalten beeinflussen zu wollen. Darum empfehlen Philippe Koch, Stefan Kurath und Simon Mühlebach, nicht länger vom öffentlichen Raum, sondern lieber vom öffentlich gemachten Raum zu sprechen.

Die vier lehrreichen Fallbeispielen zeigen, dass Räume nicht automatisch öffentlich sind, bloss weil sie sich im Eigentum der Allgemeinheit befinden. Der Lagerplatz in Winterthur gehört zum Beispiel einer Pensionskasse, der Stiftung Abendrot. Und doch ist dort ein besonders hohes Mass an Öffentlichkeit entstanden, weil mit dem ArealVerein, den Mieterinnen und Mietern sowie der Stiftung die richtigen Akteure wirken konnten. Auch die Lage in der Stadt ist nicht matchentscheidend: Am zentralen Lagerplatz ist genauso Öffentlichkeit entstanden wie im Murg-Auen-Park, der sich am Stadtrand von Frauenfeld befindet. 

Was bedeutet all das nun für Architekturschaffende? Ob Räume öffentlich gemacht werden, unterliegt unvorhersehbaren Mechanismen. Patentrezepte zur Erzeugung von Öffentlichkeit gibt es folglich nicht. Gefragt sind Beobachtungsgabe, Einbildungskraft und Experimentierfreude. Es müssen Freiräume geschaffen und Aneignungsprozesse zugelassen werden. Für den Lagerplatz zum Beispiel gab es nie einen Masterplan. Stattdessen wurde ein Entwicklungskonzept in einer öffentlichen «Zukunftswerkstatt» mit Gruppen zu den Themenfeldern Verkehr, Aussenraum, Kultur und Kommunikation sowie Energie und Entsorgung gemeinschaftlich erarbeitet. Die bunte Vielfalt am Platz wurde als Stärke begriffen, eine einheitliche Bestuhlung oder Signaletik führte man bewusst nicht ein. Und den Mieterinnen und Mietern der Erdgeschoss ist es gestattet, sich den Raum bis drei Meter um das Haus anzueignen. So ist ein Möglichkeitsraum entstanden, der ein robustes Gerüst für heutige und zukünftige Lebensverhältnisse bietet. 

Foto: Elias Baumgarten
Figurationen von Öffentlichkeit. Herausforderungen im Denken und Gestalten von öffentlichen Räumen

Figurationen von Öffentlichkeit. Herausforderungen im Denken und Gestalten von öffentlichen Räumen
Philippe Koch, Stefan Kurath, Simon Mühlebach, ZHAW Institut Urban Landscape (Hrsg.)
Mit Beiträgen von Antonia Steger und Roland Züger

195 x 314 Millimeter
128 Pagine
160 Illustrations
Fadengeheftete Broschur
ISBN 978-3-03863-065-4
Triest
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