Das Kreuz mit der Kunst

Susanna Koeberle
7. giugno 2018
Der Kreuzweg bei der Wallfahrtskirche «Madonna d'Ongero» in Carona. Alle Bilder: Antonio Maniscalco

Das Dorf Carona unweit von Lugano (und seit einigen Jahren sogar zur Gemeinde Lugano gehörend) hat Künstler und Kreative schon immer angezogen. Meret Oppenheim wohnte im Sommer hier und hatte regelmässig Besuch aus der ganzen Welt. Auch Bertolt Brecht lebte während seines Exils teilweise in Carona, und Hermann Hesse ist sogar ganz in der Nähe auf dem Friedhof von Sant’ Abbondio begraben. Auch andere Künstler besuchten das kleine Dorf hoch über dem Luganer See. Nicht zuletzt ist Carona Heimat von bekannten Steinmetzen, Stukkateuren und Bildhauern, die in die weite Welt hinaus gingen – bis nach Mailand und nach St. Petersburg. Der Architekt und Ingenieur Marco von Carona etwa war ab 1339 Bauleiter am Dom von Mailand. Im Winter waren diese Künstler und Baumeister dann in ihrem Heimatdorf tätig.

Auch beim Bau der Wallfahrtskirche Madonna d’Ongero aus dem 17. Jahrhundert, die neben der 1515 erbauten Kapelle errichtet wurde. Das architektonische Juwel mit Fresken des Tessiners Giuseppe Antonio Petrini erreicht man von Carona aus in circa 10 Minuten Fussweg durch den dichten Tessiner Kastanienwald. Der Weg zur Kirche führt über einen ansteigenden Kreuzweg, der auf beiden Seiten von je sieben kleinen Kapellen, beziehungsweise Stationen gesäumt wird. Jede Minikapelle besitzt eine Zahl, die auf den Leidensweg Christi Bezug nimmt. Zwei Mal jährlich werden diese Architekturen im Kleinformat mit Bildern bestückt, sonst sind sie leer. Ohne jede konkrete Bezugnahme auf die christliche Religion werden die Kapellen quasi zu universellen Insignien der Spiritualität. Leere ist starkes Sinnbild – für Existenz als solche, aber ebenso für den Tod. Fülle und Leere werden in vielen mystischen Strömungen als eine untrennbare Einheit gesehen. Die Leere ist überdies immer auch ein Möglichkeitsraum.

Vorne links: «Cappella. Senza titolo» von Felici Varini (courtesy Buchmann Galerie Agra/Lugano and the artist)

Verankert im Territorium
​Die Galeristin Elena Buchmann lebt schon seit vielen Jahren in der Gegend. Ihre Galerie in Agra ist ein versteckter Kunstort. Zusammen mit ihrem Sohn, der die Buchmann Galerie in Berlin führt, vertritt sie international bekannte Künstler wie Wolfgang Laib, Tony Cragg oder Alberto Garutti. Von den Räumlichkeiten ihrer Galerie aus sieht sie auf die nahe gelegene Kirche und bei ihren Spaziergängen im Wald fiel ihr die Magie des Ortes auf. Die Idee, diese aussergewöhnliche Örtlichkeit mit Kunst zu bespielen, keimte schon vor 15 Jahren, dann verlor sich das Vorhaben im Trubel der Ereignisse wieder. Bis Elena Buchmann vor etwa drei Jahren ein Konzert in der Kirche Madonna d’Ongero besuchte. Sie beschloss daraufhin, ihr Projekt zu realisieren und leitete erste Schritte ein. Es dauerte aber eine Weile, bis sie die richtigen Ansprechpersonen gefunden hatte. Die Künstler, von denen ein Grossteil bereits Ausstellungserfahrung in sakralen Räumen hatte, waren das kleinste Problem. «Meine Künstler waren alle von Anfang an begeistert von der Idee. Erstaunlicherweise kam die erste Zusage von einem japanischen Künstler, der Buddhist ist», erzählt sie bei der Eröffnung der «Via Crucis»- Ausstellung, die vor kurzem erfolgte.
 
Allerdings konnte sie diese anspruchsvolle Aufgabe neben ihrer Galerientätigkeit nicht alleine meistern. Sie zog den jungen Tessiner Galeristen Daniele Agostini sowie den Journalisten und Kurator Dalmazio Ambrosioni hinzu. «Ich wollte auch jüngere, weniger bekannte sowie Tessiner Künstler in das Projekt involvieren, die Verankerung im lokalen Kontext war mir sehr wichtig», sagt Elena Buchmann. Die Bandbreite der Künstler, die beim «Via Crucis»-Projekt dabei sind, ist eindrücklich, sowohl, was ihr Alter betrifft, wie auch bezüglich Herkunft und Bekanntheitsgrad. Wie man bei der Eröffnung sehen konnte, scheinen diese Unterschiede aber keine Rolle zu spielen. Kunsthandel mag ein elitäres Business sein, aber Kunstschaffende an sich sind umgänglicher und bescheidener als ihr Ruf. Vielleicht hatten die Galeristen auch einfach ein gutes Händchen bei der Auswahl der involvierten Persönlichkeiten. Die 14 geladenen Künstler und Künstlerinnen durften eine Nummer auswählen, was sie nicht unbedingt nach thematischen Kriterien taten, sondern eher auf das Licht und die Platzierung der Kapellen am Kreuzweg achteten. Felice Varini etwa entschied sich für die Nummer 13 ganz nahe bei der Kirche. Seine Anamorphosen, also bruchstückhafte Malereien, verwandeln sich nur an einem bestimmten Punkt zu einer geschlossenen Figur. Alle Arbeiten entstanden explizit für den Ort, einzelne Künstler nutzten sogar die Gelegenheit, um Neues auszuprobieren. Tony Crag zum Beispiel: Er fertigte zum ersten Mal ein Wandrelief aus Metall an.

«Detour» von Miki Tallone (courtesy Miki Tallone)

Unterschiedliche Interpretationen
​Allen Künstlern schickte man Fotos zu sowie die Masse der Kapellen, die teilweise leicht variieren. Denn einige internationale Teilnehmer konnten nicht extra anreisen, um sich die Location anzuschauen; viele Künstler kennen den Ort aber von ihren Besuchen in Agra, denn die meisten arbeiten schon lange mit der Buchmann Galerie zusammen. Daniele Agostini, der seit etwas mehr als einem Jahr eine kleine Galerie im Zentrum von Lugano hat, brachte eine neue Generation Kunstschaffende ins Spiel: Daniela Droz, Tonatiuh Ambrosetti, Marta Margnetti und Miki Tallone. Die Resultate der künstlerischen Positionen sind sehr unterschiedlich ausgefallen, vielen gemeinsam ist eine explizite Bezugnahme auf den Ort. Thematischer Art in einer Auseinandersetzung mit religiösen – oder zumindest spirituellen – Motiven oder durch eine Relektüre dieses speziellen «Ausstellungsraumes», der zwischen Offenheit und Geschlossenheit changiert.

Marta Margnetti: «Senza titolo» (courtesy Galleria Daniele Agostini, Lugano), Ausschnitt

Miki Tallone verliess gar die Kapelle und platzierte mit ihrer Arbeit «Detour» einen Umriss der Kapelle als eine Art Verdoppelung neben das Bauwerk. Auf diese Weise können Besucher die Kapelle physisch begehen. Tonatiuh Ambrosetti schuf eine zweite Version seiner Arbeit, die er in Agra an einer Mauer installierte. Für ihn sei klar gewesen, dass er das Christliche ausblenden wollte, erklärt der Künstler, der auch als Fotograf arbeitet. Die Doppelarbeit aus verkohltem Holz trägt den Titel «La Soglia» (die Schwelle) und greift auf alte Symbole der Menschheit zurück. Man kann darin eine Türe sehen oder einen Spiegel, auf jeden Fall benennt der Titel der Arbeit nicht nur das Kunstwerk an sich, sondern weist auf die Funktion von Kunst als solche hin. Sie findet eben nicht im Alltag, sondern an der Schwelle statt, sie richtet unseren Blick auf Vergessenes und Verdrängtes, aber auch auf  so etwas Banales (und zugleich Unerreichbares) wie Schönheit. Beide Aspekte sind in den Arbeiten der Künstler zu finden, viele wollen zwei Mal betrachtet werden, von nahem oder von weitem. Wir können ja (im Gegensatz zum Protagonisten des Kreuzgangs) mehrmals hinauf- und herunterschreiten und uns ganz der Kontemplation der Werke hingeben. Etwa beim Betrachten der weissen Fläche von Wolfgang Laib. Am Anfang sehen wir gar nichts. Na ja, auch das kann Kunst sein, denkt man bei sich. Erst bei näherem Hinschauen zeigen sich die feinen Konturen einer Landschaft.  Ob es nun eine innere oder eine äussere Landschaft ist, kann jeder für sich selbst entscheiden.
 

Erst bei näherer Betrachtung zeigt sich die Landschaft auf der weissen Fläche. Wolfgang Laib: «Io fu già quel che voi sete, e quel ch’i son voi anco sarete» (courtesy Buchmann Galerie Agra/Lugano and the artist)
Ein magischer Ort wird mit Kunst bespielt.

14 artisti
Via Crucis – Madonna d'Ongero – Carona

​Tony Cragg/Alberto Garutti/Miki Tallone/Livio Bernasconi/Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger/Bettina Pousttchi/Tonatiuh Ambrosetti/Wolfgang Laib/Lawrence Carroll/Daniela Droz/Marta Margnetti/Fiorenza Bassetti/Felice Varini/Tatsuo Miyajima

Bis 16. September 2018

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