«Wir machen gerne Experimente»

Caspar Schärer
16. aprile 2018
Der Origen-Theaterturm auf dem Julier. Bild: Origen

Herr Netzer, dieses Jahr gewann das Origen Festival Cultural den Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes. Wie geht es nun mit Origen weiter?
Nun wollen wir zuerst einmal feiern! Das Programm in Riom steht diesen Sommer ganz im Zeichen des Wakkerpreises. Im Theaterturm auf dem Julierpass zeigen wir währenddessen eine Tanzproduktion über Russland in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Es gibt ja erstaunlich starke Beziehungen zwischen Graubünden und Russland: Zum einen sind da die russischen Touristen, die schon seit langem ins Oberengadin in die Ferien fahren und dabei auch in unserem Tal ihre Spuren hinterlassen; zum anderen gingen viele Bündner Zuckerbäcker an den Hof in St. Petersburg und lernten dort die europäische Hochkultur kennen.
 
Wie wählen Sie eigentlich die Stücke aus?
Von meiner theologischen Herkunft her habe ich viele mythische Stoffe im Kopf. Das sind Ur-Stoffe, die in vielen Kulturen vorkommen. Dieses Urtümliche interessiert mich und ist im Namen «Origen» enthalten. Wichtig ist auch der Bezug zur Landschaft: Im Alten Testament finden sich viele Stoffe, die in einer rauen, harten Landschaft spielen.
 
Wie lange wird der Turm auf dem Julier noch stehen?
Die kantonalen Behörden bezeichnen den Turm als «semi-temporären Raum». Was auch immer das heisst, der Abbau ist im Herbst 2020 vorgesehen. Wir wissen noch nicht, wie gut das Holz die doch sehr exponierte Lage aushält. Andererseits kann man jetzt schon sagen, dass der Turm als Spielstätte gut funktioniert, auch im Winter. Die Wärme bleibt drinnen, das Licht in der Dämmerung ist spektakulär, die Akustik unerwartet hervorragend.
 
Was wird in Riom passieren diesen Sommer?
Wir haben ein Freilichtspiel vor, in dem es um stattgefundene und nicht stattgefundene Entwicklungen in Riom geht – konkret um ein Grand Hotel, das fast gebaut worden wäre. Auf einem Parkplatz errichten wir dafür ein Gerüst, welches das Hotel darstellen soll und Bühne und Zuschauerraum aufnimmt. Dahinter steckt ein weiterer Gedanke: Wir können mit dem Gerüst spielerisch neues Gebäude hinstellen, etwas Zukunft imitieren, ohne dass es jemanden bedroht und schauen, wie es wirkt. Überhaupt arbeiten wir viel mit Tests und Experimenten. Da wird mal ein Haus zwischengenutzt und von den Tänzerinnen und Tänzern bewohnt. Im Sommer wird es ein temporäres Hotel in einem Patrizierhaus geben. Daraus sammeln wir Erfahrungen. Es muss nicht immer alles sofort stimmen. Aber es muss gut werden!

Die Burg Riom beheimatet das Sommertheater von Origen. Bild: Christian Beutler, Keystone

Wie kommen die Tänzerinnen und Tänzer von den grossen europäischen Häusern mit der harschen Bergwelt im Oberhaltstein zurecht?
Manche haben im ersten Jahr ein bisschen Mühe, aber das äusserst sich bei Künstlerinnen und Künstlern zum Glück oft in einem wahren Kreativ-Schub. Möglicherweise ist es für viele ein Ausbruch aus einem goldenen Käfig. Ich schaue mir die Entwicklung an den europäischen Häusern schon genau an und ich stelle fest, dass sich vieles stark angleicht. Hier oben in Riom hingegen bieten wir Formate an, die es so fast nicht mehr gibt. Zum Beispiel, dass junge Choreografen einen ganzen Abend bestreiten können. Der aussergewöhnliche Standort hat ein paar Vorteile und bietet einige Chancen: auf Konzentration, auf Platz, auf lange Probezeiten und unerwartete Begegnungen. Man kann sich hier oben nicht aus dem Weg gehen.
 
Sie sprechen hier vom Tanz und damit von einer ausgeprägten Hochkultur. Wie kommt das in Riom bei der lokalen Bevölkerung an. Oder anders herum: Ist das Origen Festival mit dieser Ausrichtung nicht einfach ein abgehobener Exot?
Nein, überhaupt nicht. Es war von Anfang an unser Bestreben, den Theaterbetrieb im Ort zu verwurzeln. Alles, was ich seit über zehn Jahren mit Origen unternehme, findet eine Entsprechung im Lokalen und im bestehenden Kulturgut. Das ist nicht immer einfach, aber es ist ein klares Ziel. Waren in den Anfangszeiten vor allem die Spielstätten ein wichtiges Thema für mich, beschäftige ich mich mittlerweile intensiv mit der Regionalentwicklung, mit lokalen Wirtschaftskreisläufen, mit sozialem Zusammenleben.
 
So habe ich etwa vor, im Sommer im leerstehenden Gemeindehaus in Riom eine Textilwerkstätte einzurichten. Darin soll die Kompetenz des Festivals in Gestalt der hoch entwickelten Kostümschneiderei mit der lokalen Schafwollproduktion kombiniert werden. Dieses Entwicklungsprinzip lässt sich dann vielleicht auf andere Sparten übertragen, zum Beispiel auf die Fotografie. Letztendlich braucht es hier Arbeitsplätze!


Das Interview mit Giovanni Netzer, Gründer und Intendant des Origen Festival Cultural in Riom, führte Caspar Schärer. Letzterer ist Co-Kurator der Biennale i2a, die vom 26. bis zum 28. April in Lugano stattfinden wird.

​An der Biennale i2a in Lugano, dem dreitägigen Symposium unter dem Titel «Die Gesellschaft der Zukunft zwischen Urbanität und Natur» besteht die Gelegenheit, Giovanni Netzer am Freitag 27. April live zu erleben. Er stellt seine aktuellen Projekte, die stets höchsten künstlerischen Ansprüchen genügen und gleichzeitig in der Lebenswelt eines kleinen Dorfes in Graubünden verwurzelt sind. Die Biennale i2a widmet sich von Donnerstag Abend 26. April bis in den Samstag hinein mit unterschiedlichen Formaten den vielfältigen Aspekten einer zukünftigen räumlichen und sozialen Entwicklung. Eingeladen als RednerInnen sind Isabelle Chassot, Direktorin des Bundesamtes für Kultur, der Utopist und Autor Hans Widmer, der Brüsseler Architekt Peter Swinnen, Claudia Moll, Co-Präsidentin des BSLA, Joris van Wezemael, designierter Geschäftsführer des SIA – und viele, viele mehr. Das Programm der Biennale i2a kann online aufgerufen werden. Ebenso kann man sich auf der Webseite für eine Teilnahme anmelden.
 

Articoli relazionati

Progetto in primo piano

nmpa | nimmrichter matthiesen partner architekten

Haus Zürichsee

Altri articoli in questa categoria