Zu Gast bei Familie Tugendhat

Manuel Pestalozzi
8. settembre 2016
Der Wohnbereich mit der berühmten (und originalen) Onyxwand wurde vor vier Jahren so korrekt wie möglich in den Ursprungszustand zurückgeführt. Bilder: Manuel Pestalozzi

Einmalige Umstände
Es gibt kaum eine Bauherrschaft, die enger mit einem ikonenhaften Wohnhaus der Moderne in Verbindung gesetzt werden, als Grete und Fritz Tugendhat. Wer weiss schon etwas über Pierre und Eugénie Savoye oder Edgar Kaufmann Senior? Das Ehepaar Tugendhat hat sich über ihr Haus definiert, das es allerdings aufgrund politischer Ereignisse weniger als zehn Jahre bewohnen konnte. Die Kinder bemühten sich aktiv um seinen Erhalt.

Grete und Fritz Tugendhat stammten aus dem wohlhabenden jüdischstämmigen Fabrikantenmilieu von Brno, man kann sie als gut vernetzte, modebewusste Weltenbürger bezeichnen. Sie interessierten sich rege für neue Entwicklungen und Trends in der Welt der Technik und in den Künsten. Ludwig Mies van der Rohe suchten sie sich bewusst, in Kenntnis seiner architektonischen Neigungen, als Architekten für ihre Villa aus. Für ihn ein Traumjob: engagierte, tolerante Auftraggeber – und es durfte viel kosten.
 
Der globale Aspekt um die Auftragserteilung traf auf einen lokalen Kontext, und dieses Zusammentreffen ist ebenso interessant wie das Verhältnis zwischen Architekt und Bauherrschaft. Wenn man sich als Architekturtourist dem Haus über die Zufahrtsstrasse Černopolní nähert, ist man überrascht, wie zentrumsnah die Villa ist. Das Wohnquartier liegt auf einer Anhöhe unmittelbar östlich des Stadtkerns aus der Gründerzeit, der Blick schweift über eine Talsenke zur St.-Peter-und-Paul-Kathedrale und zur Festung Špilberk. Es ist vergleichbar mit Zürichs Quartier Enge und hat in seinem Charakter die Ära des Realsozialismus ohne grössere Schäden überstanden. Zur Planungs- und Bauzeit der Villa Tugendhat (1928 bis 1930) war Brno eine der grösseren Städte der frisch gegründeten Republik Tschechoslowakei. Eine junge Architekturschule reflektierte mit einer sinnlichen, anmutigen Variante der Neuen Sachlichkeit die damalige Aufbruchstimmung. Die nüchternen, sorgfältig ins Stadtbild eingefügten Bauten aus der Zwischenkriegszeit prägen die Identität des Geburtsorts von Adolf Loos bis heute, auf der Website www.bam.brno.cz sind fast 400 Objekte aus jener Epoche dokumentiert, auch in deutscher Sprache.

Mit dem Eingangsgeschoss nimmt die Villa Eigenschaften der kalifornischen Case Study Houses vorweg. Sie gibt sich als Bungalow mit Carport und wendet dem Strassenraum dezidiert den Rücken zu – was durchaus willkommen ist, wenn etwa neue Dampfleitungen der Fernwärmeversorgung verlegt werden.

Neues Bauen am Hang
Das Baugrundstück ist Teil eines ausgedehnten Strassengevierts. Gegen Westen wird es mit einer fast völlig geschlossenen Bauzeile aus der Gründerzeit begrenzt und löst sich hangwärts in Einzelbauten auf. Das Innere des Gevierts ist weitgehend unbebaut; es war einst ein Weinberg, später der Park der Villa Löw Beer, Bestandteil der erwähnten Gründerzeit-Bauzeile. Afred Löw Beer, der Vater von Grete Tugendhat, stellte dem jungen Paar für ihr Haus einen Teil des Parks zur Verfügung.
 
Der Umgang mit der Hanglage muss die grosse Herausforderung für das Planungsteam gewesen sein. Wenn man dem Haus im Park der Schwiegereltern eine autonome Adresse geben wollte, war es am östlichen Rand, an der Hangkante, zu platzieren. Dort gliedert sich die Villa in ein Eingangsgeschoss mit den Schlafzimmern, das sich als Attika gebärdet, und in ein Haupt- und ein Sockelgeschoss. Das Hauptgeschoss dringt ins Erdreich. Seine Rückseite besteht aus Kellerräumen, die offenbar auch die Funktion von Klimapuffern haben und vor eindringender Feuchtigkeit schützen. Das Sockelgeschoss besitzt keine Aufenthaltsräume und ist eine eigentliche Technik- und Reduitzone. Die Villa besteht somit im Wesentlichen aus zwei Aussichtsplattformen, die über dem Park schweben. Sie werden von dienenden Räumen umgeben, welche mit Technik und Personal für Komfort und Wohlbefinden sorgen. Das ist moderner, hygienisch einwandfreier Luxus aus der Zwischenkriegszeit.
 

Blick auf die Westfassade. Das dreigeschossige Volumen ist in den Hang gebaut. Der Bezug zum Park ist distanziert, im Sockelgeschoss gibt es keine Aufenthaltsräume.

Antiseptische Intimität
Die Restaurierung möchte den Ursprungszustand wieder herstellen. Die Besucher, die nach Voranmeldung geführt und in kontrollierter Dosierung eingelassen werden, sind also zu Gast bei der Familie Tugendhat – wie sie von 1930 bis 1938 existierte. Nach der Flucht der Familie vor den Nazis hatte die Villa ein wechselhaftes Schicksal, das in einer kleinen Ausstellung im Sockel nacherzählt wird: Auf einen deutschen Ingenieur folgten die sowjetischen Befreier, welche einen Pferdestall eingerichtet haben sollen. Später diente das Hauptgeschoss als Tanz- und Gymnastikschule für Kinder, 1992 wurde in der Villa Tugendhat über die Trennung der Tschechischen Republik von der Slowakei verhandelt.
 
Es ist also weitgehend eine Rekonstruktion, welche die Gäste zu sehen bekommen, nachdem sie sich ihre Schuhsohlen fachgerecht mit Plastic versiegeln liessen. Diese wirkt allerdings sehr überzeugend. Einerseits war der Ursprungszustand der Villa hervorragend und bis ins Detail dokumentiert, nicht zuletzt durch Fritz Tugendhat, der ein begeisterter Hobbyfotograf war. Andererseits scheute man weder Mühe noch Aufwand, um Oberflächen und Mobiliar zu finden, die dem Originalzustand entsprechen. «Echt» sind die Onyxwand in der Wohnzone und die Verkleidung einer speziell klimatisierten Kammer für Frau Tugendhats Pelzmäntel im Kellergeschoss. (Die halbrunde Trennwand aus Makassar-Holz im Hauptgeschoss galt seit 1940 als verschwunden und wurde in den 1980er-Jahren rekonstruiert – im Jahr 2011 wurden die originalen Furnierplatten in der Mensa der Universität Brünn wiederentdeckt. Sie dienten hier in einem ehemaligen deutschen Offizierskasino als Wandverkleidung. Inzwischen wurde die Wand ein zweites Mal, diesmal unter Verwendung der Originalplatten, rekonstruiert. Der Rest ist dem Original nachempfunden. Quelle: de.wikipedia). So ergibt sich ein bis ins Zimmer der Gouvernante stimmiges Gesamtbild und ein Ambiente, das sich in die Architektur- und Kunstgeschichte einordnen lässt. Es wirkt in seinem musealen Zustand gespenstisch und aseptisch zugleich. Man hat Mühe sich vorzustellen, wie die Familie in dieser kühlen, insgesamt doch eher abweisenden Architektur ihren Alltag zubrachte.

Meisterhafte Inszenierung: Nachdem man vom Entree eine enge, halbgewendelte Treppe hinabgeschritten ist, öffnet sich unerwartet das Raumkontinuum der Wohnzone. Der Blick geht durch die Bibliothek und den Wintergarten nach Süden, in den Baumbestand an der Parzellengrenze.

Radikalität und Anmut
Die Villa Tugendhat wurde zur selben Zeit geplant wie der Deutsche Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona, an beiden Projekten wirkten Lilly Reich und (der allgemein wohl etwas unterschätzte) Sergius Ruegenberg mit. Die zwei Bauwerke sind miteinander verwandt. So findet man verschiedene Elemente des temporären Pavillons auch in der für die Ewigkeit gebauten Villa wieder: Travertin als Bodenbelag, mit poliertem Chromstahl verkleidete Kreuzstützen, nichttragende Wandscheiben aus Edelstein. Die Radikalität ist in Brno aber gepaart mit einer Anmut, die man beim Barcelona-Pavillon vergeblich sucht. Geschwungene Raumtrenner deuten Nischen an, beim Entree zähmt Milchglas das einfallende Licht. Das Raumkontinuum im Wohngeschoss lässt sich durch das Ziehen verschiedenfarbiger Vorhänge gliedern und in Kokons verwandeln. Den harten, reflektierenden Oberflächen wird eine Welt der lose hängenden, weichen Textilien gegenübergestellt. So ist das Haus zwar eine radikale Neuinterpretation des Villentyps, es zeigt aber auch auf, wie man bei aller Radikalität mit dem Thema Privatsphäre und Geborgenheit umgehen kann.
 
Der Anmut oder zumindest den körperlichen Wohlergehen dient auch die Haustechnik. Sie ist zwar verborgen, bildet aber ein wichtiges Element des Hauses und seines Anspruchs, das luxuriöse Wohnen neu zu erfinden, und wird auf den Rundgängen auch stolz gezeigt. Zwei der grossen, zum Park orientierten Fensterscheiben des Hauptgeschosses lassen sich – anscheinend mit den ursprünglichen Kettenantrieben im Kellergeschoss – vollständig absenken. Das Hauptgeschoss und der angrenzende, wirklich geniale Wintergarten-Korridor entlang der Südfassade werden über eine Luftheizung klimatisiert. In den hangseitigen Pufferräumen des Sockelgeschosses befinden sich die riesigen Mischkammern des aufwendigen Systems. Die Zuluft wurde mit einem Ölfilter gereinigt und mit Holzspänen parfümiert, bevor es in das epochale Raumkontinuum der Villa eintrat.

Der Wintergarten macht die Südfassade des Hauptgeschosses zur Doppelfassade. Am Boden ist der Auslass der Luftheizung erkennbar, an der Decke verläuft eine der zahlreichen Vorhangschienen.

Wer die Villa Tugendhat besuchen möchte, muss sich mindestens zwei Monate im Voraus anmelden!

Die Zeitschrift «tec21» hat einen Bericht über die Restauration mit Plänen publiziert.

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