Ein Gürkchen in London

Juho Nyberg
4. dicembre 2018
Form follows function? Muss nicht sein. Bild via ft.com

Mit der Swiss Re bezog 2004 ein global agierendes und ebenso bekanntes Unternehmen ihren neuen Firmensitz im Herzen Londons. Doch nicht der Rückversicherer war prägend für die Bezeichnung des Gebäudes, der Volksmund entschied sich anders. In Anlehnung an die exaltierte Form wird das Gebäude zumeist The Gherkin genannt – Gewürzgurke also. Es ist mit 180 Metern Höhe bei weitem nicht das höchste Gebäude in Londons Skyline, aber wohl eines der markantesten.

Seit fünf Jahren führt Renzo Pianos Shard nicht nur die Liste der höchsten Gebäude Londons an, es kann es punkto Ausdruck durchaus mit Fosters Gurke aufnehmen. Dazu ist es öffentlich zugänglich, befindet sich doch in luftiger Höhe von über 200 Metern eine Aussichtsplattform. Ab aktuell gut 30 Franken kann man ein Tagesticket erwerben, Eintritt mit Champagner kostet etwas mehr. Somit wird ein Teil der Wertschöpfung des Gebäudes von Touristen erbracht, die sich sehr wahrscheinlich vor allem selber oder gegenseitig fotografieren an diesem sehr instagrammable Ort, um sich in die been-there-done-that-and-taken-the-picture-Blödheit der meisten Touristen einzureihen.

Mit dem Vorschlag, als Londons höchstes Gebäude einen Aussichtsturm zu bauen, versucht Norman Foster nun wieder die Deutungshoheit wiederzuerlangen. Inmitten des Hochhausclusters schlägt er etwas vor, das je nach Interpretation und Wohlwollen wahlweise als Tulpe, Ei oder Cornichon gesehen werden kann. Gemäss einem Bericht im Guardian war der Architekt zunächst beauftragt worden, zuoberst im Gherkin eine Touristenattraktion einzubauen. Die Raumverhältnisse erwiesen sich jedoch als zu eng, worauf die Idee eines Bauwerks, das einzig diesem Zweck dienen sollte, entstand. Geplant ist nun also ein Etwas, das auf zwölf Etagen in diesem gläsernen Ei jede auch nur erdenkliche touristische Attraktion feilbieten soll: neben den selbstverständlichen Restaurants und Bars soll es gläserne Brücken (wie etwa im Grand Canyon) und Gondeln geben, die als Miniatur-London-Eye aussen an der Fassade kleben und achtminütige Fahrten mit Ausblick ermöglichen. Als gesellschaftliches Feigenblatt ist auch ein Klassenzimmer (ja!) geplant, das jährlich 20'000 Schülern die Möglichkeit bieten soll – was zu tun? Auf London zu schauen? Das Taschengeld für eine stupide Gondelfahrt zu verprassen? Oder einfach ein Selfie zu schiessen, das man anschliessend auf instagram posten kann?

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