Die Welt erzählt mit der Leica

Nadia Bendinelli
20. 2月 2020
René Burri, «El Che», Bild für die Einladungskarte zur «Retrospective 1950–2000» in Rotterdam im Jahr 2005 (© René Burri / Magnum Photos, Fondation René Burri, mit freundlicher Genehmigung des Musée de l’Elysée, Lausanne)

«Ein Foto ist eine Momentaufnahme – wenn Sie den Auslöser drücken, kommt es nie wieder zurück. Dieses Bild verdankt seine Berühmtheit dem Mann mit der Zigarre, nicht mir.» Vielleicht hatte René Burri mit dieser Aussage recht – sicher ist, nachdem Ernesto «Che» Guevara im Oktober 1967 gestorben war, wurde sein Porträtbild des Revolutionärs weltweit zur Ikone. Zugleich aber wurde auch der Schweizer Fotograf bekannt. Ende 1962 suchte Laura Bergquist, Sonderkorrespondentin des Magazins Look, einen Fotografen, der mit ihr nach Kuba reisen würde. Burri machte sich, Genehmigung und Visum in der Tasche, mit ihr auf dem Weg. Als sie in Ches Büro im Riviera Hotel in Havanna empfangen wurden, waren alle Fenster abgedunkelt – nachgerade kein ideales Licht für Porträtfotos. Sieht man von dieser Unannehmlichkeit ab, hatte Burri aber freie Hand und «tanzte», wie er später erzählte, drei Stunden lang um das angeregte Gespräch zwischen Che und Bergquist. Auf 150 Bildern fing er verschiedenste Ausdrücke und Emotionen ein – kein einziges Mal sah das Sujet den Fotografen direkt an. Che ignorierte Burri bewusst, um bessere Aufnahmen zu ermöglichen.

René Burri, «Brasilia, Brasilien», 1960 (Foto © René Burri / Magnum Photos, Fondation René Burri, mit freundlicher Genehmigung des Musée de l’Elysée, Lausanne)
Menschen machen Geschichte

Im Laufe der Zeit hielt Burri unzählige Künstler*innen, Architekt*innen, Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und Menschen, die ihn interessierten, mit seinem «dritten Auge», der Leica, fest. Die Betonung liegt dabei auf «interessierten», denn nicht Prominente wollte Burri zeigen, sondern die Menschen dahinter; ein zentrales Sujet seiner Arbeit, das er mit Tiefgang, Sensibilität und Kraft nachzeichnete. Als Reporter hatte er, getrieben von Entdeckungs- und Lebenslust, schon mit 22 ganz Europa bereist und mit 30 die Welt gesehen. Dabei fragte er sich, was verschiedene Kulturen ausmacht; nicht, um Unterschiede herauszuarbeiten, sondern um Gemeinsamkeiten zu suchen. Denn Burri war überzeugt, wir alle müssten endlich begreifen, dass wir gemeinsam auf einem kleinen, fragilen Planeten leben, im selben Boot sitzen. Eine idealistische, doch keineswegs naive Haltung. Denn Burri war Zeuge und Erzähler der Weltgeschichte: Er fotografierte das Leben in der DDR, den Staatsbesuch von Dwight D. Eisenhower in Bonn 1959, den Vietnamkrieg, die Beerdigung von John F. Kennedy, die Reise von Papst Paul VI. ins Heilige Land und das Entzünden des olympischen Feuers in Griechenland. Er dokumentierte die Apartheid, begleitete die Demonstrationen farbiger Bürgerrechtler*innen in Washington und verfolgte das Space-Shuttle-Programm der NASA. Er hielt das Gipfeltreffen von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Moskau 1988 genauso fest wie den Fall der Berliner Mauer. Beliebig liesse sich diese Aufzählung fortsetzen. Wie angedeutet, stellte Burri immer die Menschen in den Mittelpunkt, im Besten wie im Übelsten. Er wollte nicht bloss dokumentieren, sondern in starken und perfekt komponierten Bildern seinen subjektiven Blick transportieren. 

René Burri, «Mexico, Chiapas»1982 (Foto © René Burri / Magnum Photos, Fondation René Burri, mit freundlicher Genehmigung des Musée de l’Elysée, Lausanne)
Zwischen Foto und Film

Begonnen hat all das, als der 13-jährige Burri Winston Churchill im Herbst 1946 während dessen Besuch in Zürich fotografierte. Als er später die Kunstgewerbeschule in der Stadt besuchte, galt sein besonderes Interesse allerdings noch dem Film. Zu dieser Zeit gab es für dieses Medium jedoch keinen spezifischen Studiengang, so wich er auf Fotografie aus. 1955 begann er für Magnum Photos zu arbeiten – bis heute eines der wichtigsten Fotografen-Kollektive der Welt. Magnum war nicht nur wichtig für Burris Karriere, sondern wurde ihm auch eine zweite Familie, sodass er sich 1976 im Pariser Sitz Wohnräume einrichtete. Neben seiner Tätigkeit als Reporter für die Agentur arbeitete er als freier Fotograf. So entstanden parallel zu Burris Reportagen Bücher und Ausstellungen. Er war abenteuerlustig und experimentierfreudig und suchte nach immer neuen Geschichten, niemals wartete er einfach auf eine Beauftragung. Seine Leidenschaft für den Film kam ihm nie abhanden, trotz seines grossen Erfolgs als Fotograf: Im Laufe seiner Karriere drehte er nicht weniger als 25 Filme.

René Burri, «Vier Männer auf dem Dach, São Paulo, Brasilien», 1960 (Foto © René Burri / Magnum Photos, Fondation René Burri, mit freundlicher Genehmigung des Musée de l’Elysée, Lausanne)
Zeichnen mit der Kamera

Auf nur ein Pferd zu setzen und sich künstlerisch festzulegen, war in der Fotografie und auch sonst nie Burris Ding. Schon an der Kunstgewerbeschule besuchte er auch Zeichen- und Grafikkurse. Unter dem Einfluss von Lehrern wie Johannes Itten (1888–1967) wurde er vom Konstruktivismus geprägt. Dies und eine tiefe Vertrautheit mit der Grafik spiegeln sich in seine Fotografie wider. Seine Porträts zeichnen sich bisweilen durch eine sehr grafische Umgebung aus. Der Aufbau seiner Bilder orientiert sich an klaren Linien und Flächen. Dies ermöglichte ihm das Einbinden einer starken Symbolik. Manchmal wirken die Elemente auf Burris Fotos so abstrakt, dass man meinen könnte, sie seien gezeichnet. Eine starke Geometrie, klare Organisation und zugleich Sensibilität und grosses Einfühlungsvermögen zeichnen seine Arbeit aus. 

Auch die Collage zählte zu den vielen Ausdrucksformen, derer sich Burri bediente. Es heisst, durch die Gestaltung von Collagen habe er sich von seiner Flugangst abgelenkt. Lange blieben diese Arbeiten reines Privatvergnügen, ehe sie 1981 zum ersten Mal veröffentlich wurden. 1984 waren einige in der Ausstellung «One World» in Zürich, Paris, Mailand und Lausanne zu sehen. Die Schau umfasste daneben auch Zeichnungen und Videoinstallationen des Multitalents.

René Burri, «Selbstportrait, Coronado, New Mexico, Vereinigte Staaten», 1973/1983 (Collage © René Burri / Magnum Photos, Fondation René Burri, mit freundlicher Genehmigung des Musée de l’Elysée, Lausanne)
«Explosion des Sehens»

2013 gründete René Burri eine Stiftung, deren Sammlung im Musée de l’Elysée in Lausanne untergebracht ist, um sein gesamtes fotografisches Archiv für die Nachwelt zu erhalten. Er hoffte, damit die Schweizer Fotografie für die Zukunft zu unterstützen. Nach seinem Tod im Folgejahr kam eine unglaubliche Masse an Material aus seinen Wohnungen in Paris und Zürich in der Westschweiz an: 10'000 Papierbilder, 7'000 Kontaktbögen, 33'000 Arbeitsabzüge, 170'000 Diapositive, 100 Collagen, über 150 Skizzenhefte und Layout-Bücher mit Zeichnungen, Collagen und Notizen sowie über 100 Kilogramm Archivmaterial, bestehend aus Dokumenten, Magazinen und Papieren. Es fehlen einzig die Negative, die Magnum gehören. Burri hatte bereits ein charmantes Archivierungs-System für seine Abzüge entwickelt: In hölzernen Grand Cru-Weinkisten waren sie aufbewahrt, durch handgeschriebene Lesezeichen getrennt. Ein Indiz für seinen Geniesser-Charakter, der Wein, Zigarren, Jazz, feines Essen, Literatur und gute Gesellschaft zu schätzte wusste. Das System wurde als Teil seines Werkes und seines Wesens erhalten. René Burri galt als positive Persönlichkeit, er konnte sowohl Meister als auch Zuhörer sein. Als konstruktiver Geist und Visionär verstand er die Fotografie als Mittel für andere Zwecke, als Medium, um Botschaften zu vermitteln und einen ethischen Diskurs zu führen.

Aktuell präsentiert das Musée de l’Elysée die Ausstellung «Explosion des Sehens» samt gleichnamigem Katalog, der von Scheidegger und Spiess verlegt wurde. Sie läuft noch bis zum 3. Mai dieses Jahres. Erstmals wird eine Auswahl aus dem Nachlass Burris gezeigt. Die Schau und der Katalog machen den Menschen hinter dem Fotokünstler zugänglich. Sie ermöglichen, mehr über den Mann mit dem Borsalino Hut zu erfahren. 

René Burri. Explosion des Sehens

René Burri. Explosion des Sehens
Mélanie Bétrisey und Marc Donnadieu (Hrsg.)
Mit Beiträgen von Mélanie Bétrisey, Daniel Bischof, Clara Bouveresse, Marc Donnadieu, Julie Enckell Julliard, Werner Jeker, Hans-Michael Koetzle und Bernard Plossu

210 x 270 Millimeter
240 ページ
252 Illustrations
ISBN 9783858816610
Scheidegger & Spiess
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