Das Atelier Hermann Haller in neuem Licht

Susanna Koeberle
7. 9月 2022
Installationsansicht der Ausstellung «abstrakt gedacht» (Foto: Sebastian Schaub)

Es gibt Orte, an denen man mehrmals vorbeigeht, ohne sie zu bemerken. Dies, obwohl man eigentlich wüsste, dass sie existieren. Im Fall des Ateliers von Hermann Haller spielt allenfalls auch sein prominenter Nachbar eine Rolle bei diesem «Unsichtbarsein». Gleich neben dem unscheinbaren Holzbau liegt nämlich der Pavillon Le Corbusier. Eine Architekturikone als Konkurrentin zu haben, ist kein einfaches Schicksal, wobei man an dieser Stelle betonen muss, dass es das Atelier des Künstlers Hermann Haller (1880–1950) schon viel länger gibt, genauer gesagt 35 Jahre länger. Während das letzte Bauwerk des bekannten Architekten 1967 fertiggestellt wurde, entstand das Atelier des Zürcher Bildhauers nach seinen Plänen schon im Jahr 1932. Der Künstler war ursprünglich zum Architekten ausgebildet worden. Haller war damals schon relativ bekannt und stellte auch international aus. Die Stadt Zürich stellte ihm das Grundstück zur Verfügung. Dort arbeitete er bis zu seinem Tod an seinen Plastiken, die bis heute im Atelier und in den angrenzenden Räumen aufbewahrt werden.

Kyra Tabea Balderer baute für ihre Fotografien ein Gerüst. (Foto: Sebastian Schaub)

Um den Dialog mit den Werken des Zürcher Bildhauers lebendig zu halten, werden seit drei Jahren in den Sommermonaten Ausstellungen mit Arbeiten anderer Künstler*innen im Atelier veranstaltet. Die aktuelle Ausstellung «abstrakt gedacht» situiert das historische Werk von Hermann Haller im Kontext von abstrakten Kunstwerken, die Bezüge zu gegenständlicher Kunst sowie zur klassischen Avantgarde aufweisen. Denn obwohl Haller in engem Austausch mit der zeitgenössischen Kunstszene stand, blieb sein Werk weitgehend davon unberührt. 

Die beiden Kuratorinnen Maren Brauner und Irene Grillo haben fünf Künstlerinnen eingeladen, auf die Plastiken von Haller – meist Darstellungen von Frauenkörpern –  zu reagieren. Dabei ging es auch um den Umgang mit dem Charakter der Räumlichkeiten. Beim Betreten des Holzbaus fällt die eigentümliche Lichtstimmung auf, die auf die architektonischen Besonderheiten zurückzuführen ist. Das Licht kommt von oben und zusammen mit der Patina des weiss gestrichenen Holzes entsteht eine vom Alltag entrückte Atmosphäre. 

In der Mitte des ersten Raumes steht die riesige Figur «Mädchen mit erhobenen Armen». Ihre Geste hat etwas Fröhliches, als würde sie sich über etwas freuen oder zum Tanz ansetzen. Das leicht erhöhte Bodenbild aus Keramik, das Clare Goodwin für den Raum schuf, gleicht einer Bühne. Dort steht, eher in sich gekehrt, eine kleinere Frauenfigur. Für ihre abstrakten Keramikbilder, die aus handbemalten Fliesen bestehen, geht die Künstlerin von der menschlichen Figur aus. Es ist, als würden die Bilder die Bewegungen der Frauenkörper aufnehmen und eine Art choreografisches Skript darstellen. Auf diese Weise treten Figuration und Abstraktion in ein bewegtes Zwiegespräch. 

Die grafischen Arbeiten widerspiegeln sich im Holzgerüst, das Kyra Tabea Balderer eigens für ihre Fotografien gebaut hat. Dieses wiederum nimmt das von Haller eingebaute Regal auf, auf dem weitere Werke ausgestellt sind. Die rasterartige Struktur wird zum Leitmotiv für die Wahrnehmung des Raumes. In ihrer Praxis verbindet die Zürcher Künstlerin Fotografie, Malerei und Plastik. Ausgehend von einem kleinen Bein aus Ton, das sie im Atelier Hermann Haller vorfand, erstellte sie einen Bronzeguss, setzte diesen in Szene und fotografierte das Ganze. Die Übersetzung von einem Medium ins andere entwickelt eine eigentümliche Sogwirkung: Das Auge wandert von einem Gegenstand zum anderen und stellt immer wieder neue Bezüge her. Balderer lenkt unseren Blick, fordert ihn zum Entziffern der abstrakt wirkenden Motive auf und thematisiert so implizit die Beziehung zwischen Abstraktion und Figuration.

Die ausgestellten Arbeiten lenken die Aufmerksamkeit auf das Raster als Motiv des Raumes. (Foto: Sebastian Schaub)

In den Holzregalen an der Wand räkeln sich Tonstudien – sogenannte Bozzetti – von liegenden Frauenkörpern, über ihnen hängen kleinere Aquarelle von Shannon Zwicker. Diese dienen der Künstlerin häufig als Studien für ihre grösseren Malereien. Immer wieder meint man darin einen Körperteil zu erkennen, doch das Bild will sich nicht scharf stellen lassen, das Motiv entzieht sich einer eindeutigen Lektüre und der Deutungsmacht des Blicks. Mit dieser Strategie scheinen sich die zarten Bilder selber zu schützen. Die Sichtbarkeit und die Repräsentation des weiblichen Körpers sind zentrale Themen im Werk der Künstlerin. Mit den Körperfragmenten scheint sie gängige, gesellschaftlich bedingte Normen zum Körperbild zu hinterfragen und auf die Probe zu stellen.

Auch Sonia Kacem interessiert sich für die Aufhebung von Grenzen. Ihre Arbeiten thematisieren wiederholt das Ornament und seine Abwertung in der abendländischen Architektur sowie in vielen Strömungen der Moderne. Von der Galerie aus hat man nochmals eine andere Sicht auf die räumlichen Verhältnisse des Ateliers. Ihre an ein Gerippe erinnernde Skulptur aus Holz, die sie dort platziert hat, oszilliert zwischen architektonischem Konstrukt und Alltagsgegenstand. Das Teil könnte eine Basis für ein Tipi sein. Die gebogene Form der Holzrippen nimmt zugleich auf die Bewegung der grossen Hallerschen Frauenfigur Bezug. 

Wie Bewegung vom menschlichen Körper als Objekt losgelöst werden kann, zeigen die eindrücklichen Bilder von Sabine Schlatter. In den grossformatigen Gemälden spürt man die Präsenz von anderen Geschöpfen und pflanzlichen Organismen. Und doch erahnt man aufgrund des expressiven Duktus, dass es hier auch um Gefühlszustände gehen könnte. Das Zerfliessen und Sich-Neu-Bilden der Formen liessen sich als Intensitäten ohne bestimmten Inhalt bezeichnen. Die Bilder stehen gleichsam für die Zerbrechlichkeit aller lebenden Wesen an sich.

Licht und Kunst im Zwiegespräch (Foto: Sebastian Schaub)

Die experimentellen Arbeiten der jungen Künstlerinnen erzeugen einen frischen Blick auf die eher konservativ anmutenden Werke Hermann Hallers. Dass sie in einem Raum gezeigt werden, der aus der Feder des Künstlers stammt, lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die Qualitäten dieses etwas vernachlässigten Bauwerks, das nächstes Jahr saniert werden soll. Man darf hoffen, dass dabei möglichst nur das Nötigste gemacht wird. Denn dieser Raum ist selber eine Leinwand mit vielen Geschichten.

Die Ausstellung im Atelier Hermann Haller (Höschgasse 6, 8008 Zürich) ist bis zum 2. Oktober 2022 jeweils von Freitag bis Sonntag von 12 bis 18 Uhr geöffnet. 

Am Freitag, dem 23. September, um 18.30 Uhr findet eine Performance des Studiengangs Modedesign HF der F+F Schule für Kunst und Design Zürich statt.

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