Kritisches Denken statt kalter Mathematik – zum Tod von Stefan Polónyi

Falk Jaeger
21. 4月 2021
Illustration: World-Architects.com
«Es ist nicht Aufgabe des Ingenieurs, dem Architekten zu zeigen, dass es nicht geht, sondern wie es geht.»

Stefan Polónyi

1930 im ungarischen Gyula geboren, studierte Stefan Polónyi an der TU Budapest Bauingenieurwesen und arbeitete bereits im dritten Semester als Assistent in Darstellender Geometrie. Durch seinen Lehrer István Menyhárt wurde er mit dem Schalenbau «infiziert», wie er später sagte, ein Thema, das ihn neben den Bogentragwerken zeitlebens beschäftigte. Nach Diplom und Assistenz zog es ihn 1956 nach Köln, wo er bereits ein Jahr später ein eigenes Büro eröffnete. Er war immer Frühstarter – auch als Hochschulprofessor, denn als Oswald Mathias Ungers ihn 1965 an die TU Berlin holte, war er erst 35 Jahre alt, der jüngste seiner Zunft. Die damals gerade fertiggestellte HP-Schale von St. Suitbert in Essen (Architekt Josef Lehmbruck) war für seine Berufung nach Berlin ausschlaggebend. 

Zu seinen wenig jüngeren Studierenden pflegte er ein entspanntes Verhältnis, versuchte sie in seiner leisen, uneitelen Art mehr zu beraten als zu belehren. Stefan Polónyi war ein charismatischer Lehrer. Ihn hat immer das Warum mehr interessiert als das Wie. Es störte ihn, dass die Ingenieurausbildung sich seit jeher auf das rechnerische Lösen der Aufgaben konzentrierte. Er lehrte seinen Schüler*innen die Neugier, das konzeptionelle, alternative, kritische Denken. Zum kritischen Denken gehörte für Polónyi auch das Hinterfragen scheinbar sakrosankter Vorschriften. Warum, so fragte er zum Beispiel, muss man auf Druck belastete Betonkonstruktionen armieren? Die von den Normen vorgeschriebenen «Angsteisen» hielt er für überflüssig. So widmete er sich der Erforschung zweckmässiger Betonarmierungen – eines seiner Spezialgebiete.

Und nochmals machte Polónyi in universitären Kreisen von sich reden: 1973 wurde er an die Universität Dortmund berufen und brachte im Jahr darauf gemeinsam mit dem Architekten Harald Deilmann das «Dortmunder Modell Bauwesen» an den Start – bis heute der engagierteste Versuch in Deutschland, Architekturschaffende und Bauingenieure gemeinsam auszubilden, damit sie dieselbe Sprache sprechen und Verständnis für das Metier des jeweils anderen in die Praxis mitbringen. Wirklich gelungen sei das Experiment, dem viel Sympathie entgegengebracht wurde, nicht, resümierte Polónyi im vergangenen Jahr. Man habe von ihnen Reformen erwartet, meinte er kritisch, unter der Bedingung, dass alles bleibe, wie es ist. Das allgemeine Wohlwollen in Fachkreisen war also nichts weiter als ein Lippenbekenntnis, das Modell liess sich nicht institutionalisieren.

Polónyi plante das Tragwerk der Neuen Messe Leipzig, die in den Jahren 1991 bis 1995 errichtet und 1996 eröffnet wurde. Die Architektur des Bauwerks stammt von Ian Ritchie und dem Büro gmp. (Foto: OmiTs via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)
Polónyi hat eine Brücke über den Rhein-Herne-Kanal bei Gelsenkirchen konstruiert, die anlässlich der Bundesgartenschau 1997 gebaut wurde. (Foto: Thomas Robbin via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

Polónyis Anliegen, Architektinnen das Denken in Tragwerken und Ingenieuren das Entwerfen ästhetischer Formen nahezubringen, ist nach wie vor aktuell. Die bedeutendsten Architekten und Ingenieurinnen beherrschen den Spagat und haben nicht zuletzt deswegen einen Namen. Wenn beide Disziplinen kooperieren, entstehen in symbiotischer Zusammenarbeit Ikonen wie die zentrale Halle der Messe Leipzig (1996, Architektur: Ian Ritchie mit gmp), mit zwei Hektaren Grundfläche die grösste Vollglashalle Europas. Wenn Stefan Polónyi äusserte, ein Ingenieur benötige keine architektonische Haltung oder gar einen eigenen Stil, er müsse Architektur ermöglichen, so erhellt das seine bescheidene Art. «Es ist nicht Aufgabe des Ingenieurs, dem Architekten zu zeigen, dass es nicht geht, sondern wie es geht», beschrieb er seine dienende, aber zugleich leitende Funktion.

Im Brückenbau allerdings verschiebt sich das gestalterische Moment entschieden in Richtung des Tragwerksplaners. Etwa bei den Fussgängerbrücken im Ruhrgebiet mit ihren leuchtend roten Rohrbögen, die sich schräg über die an Tragseilen hängenden Brückendecks schwingen. Die Vorhallendächer des Kölner Hauptbahnhofs (1990, mit Busmann + Haberer) sind ebenso emblematische Tragwerke, in diesem Fall mit Reminiszenzen an die Gewölbestrukturen des benachbarten Doms. 

Zahlreiche bedeutende Bauwerke in Deutschland, die allgemein ins Bildgedächtnis eingingen, sind mit Polónyi verbunden: der Flughafen Tegel (mit gmp) zum Beispiel, das Kunstmuseum Bonn (mit Axel Schultes) und, gleich gegenüber, die Bundeskunsthalle (mit Gustav Peichl). Die drei Komplexe der Friedrichstadtpassagen in Berlin entstanden in Zusammenarbeit mit dem Büro Pei Cobb Freed & Partners, Jean Nouvel sowie Oswald Mathias Ungers. Mit letzterem baute Polónyi zwischen 1980 und 1983 auch die Galleria der Messe Frankfurt. Das Nederlands Dans Theater in Den Haag (mit Rem Koolhaas) war eines seiner vergleichsweise raren Projekte ausserhalb Deutschlands – insgesamt baute Polónyi bis weit in die 2000er-Jahre hinein.

Stefan Polónyi starb im Alter von neunzig Jahren am 9. April 2021 in seiner Wahlheimat Köln.

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