Wie Kunst unsere Wahrnehmung herausfordern kann

Susanna Koeberle
16. 11月 2021
Thomas Hirschhorn geht mit seiner Ausstellung im MAXXI an die Grenze des Erträglichen. (Foto © Giorgio Benni, mit freundlicher Genehmigung der Fondazione MAXXI)

Das MAXXI (Museo nazionale delle arti del XXI secolo) in Rom ist eines der stärksten Bauwerke von Zaha Hadid (1950–2016). 1999 gewann die irakisch-britische Architektin mit einem radikalen Entwurf den Wettbewerb für das Museum auf dem ehemaligen Militärgelände im Norden Roms. Die Eröffnung im Jahr 2010 erfolgte nach einer Dekade. Die lange Bauzeit hatte in erster Linie mit politischen Unwägbarkeiten zu tun. In Italien zu bauen, ist eine besondere Herausforderung. Während sich der Bau städtebaulich sehr schön in die Umgebung einfügt, ist er im Innern nicht ganz einfach zu bespielen. Die fliessenden Formen des exzentrischen Raumorganismus sind in der Tat eine Herausforderung für Kurator*innen. Doch exakt diese leicht verwirrende räumliche Organisation schien für das Projekt von Thomas Hirschhorn wie gemacht. Der Schweizer baute mit «The Purple Line» eine Architektur in der Architektur, die wiederum die gängige Zirkulationsform in Museumsräumen infrage stellt. Hirschhorns Praxis ist für ein klassisches Museum kaum geeignet. «The Purple Line» ist eine sechs Meter hohe und 250 Meter lange, violette Wand (ich würde die Farbe allerdings eher als dunkles Pink bezeichnen). Dieses architektonische Element ist Teil des Werks, es bildet quasi einen eigenständigen Körper, der unserer selektiven Wahrnehmung einen Strich durch die Rechnung macht. Der räumliche Aspekt der Installation ist inhaltlich zentral, denn er erzeugt eine physische Erfahrung. Und genau das ist das Ziel von Thomas Hirschhorn: Es geht ihm auch darum, die Betrachter*innen ganz direkt in seine Kunst zu involvieren. 

Installationsansicht aus «The Purple Line» (Foto © Giorgio Benni, mit freundlicher Genehmigung der Fondazione MAXXI)

Dies geschieht nicht nur durch die Architektur, sondern ganz gezielt auch durch die titelgebende Farbgebung der Arbeit. Farbtheoretisch gesehen ist Violett die Farbe, die Gefahr signalisiert. Und offenbar können wir uns dieser Wirkung nicht entziehen, auch wenn wir die Farbe ästhetisch ansprechend finden oder sie symbolisch mit anderen Bedeutungen aufgeladen ist. Hirschhorn zielt genau auf diesen Kontrollverlust. Zugleich handelt die Installation von der Kontrolle über unsere Wahrnehmung. Von der ungefragten Präsenz und Flut an Bildern, die täglich auf unsere Netzhäute treffen. Hirschhorn stellt mit «The Purple Line» eine Fülle von Fragen in den Raum: Welche Bilder werden uns geliefert? Wer kontrolliert den Bilderfluss? Wie schützen wir uns vor unangenehmen Bildern? Was fasziniert uns an Bildern des Schreckens?

Was uns der Künstler hier «serviert», sind Bilder aus zwei Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Krieg und Modeindustrie. Bei der Bildkreation nutzt Hirschhorn unterschiedliche Formen der Verfremdung: die Verpixelung und die Collage. Er habe schon immer gerne Dinge zusammengebracht, die eigentlich nicht zusammen gehören, wird Thomas Hirschhorn im Katalog zitiert. Der Künstler arbeitet schon länger mit dem Medium der Collage. Seine Werkserie «Pixel-Collage» (2015–2017) überführt er in Rom nun in eine räumliche Dimension. Wesentlich für die Wirkung der Arbeit ist die Art und Weise, wie wir als Betrachter*innen diesen wahnwitzigen Bildkompositionen begegnen. Hirschhorn hat Bildfragmente mit durchsichtigem Klebeband zusammengefügt und diesen Bildflickenteppich dann mit einer Plastikfolie überzogen. Die Folie schafft einen doppelten Effekt: Einerseits spiegeln sich im Material unsere Körper, andererseits nimmt diese zusätzliche Schicht das politische Thema der Zensur auf. Zudem erinnert diese besondere Materialität auch an die glänzenden Seiten von Modemagazinen. 

Die räumliche Anordnung folgt nicht der üblichen Zirkulation von Museen. (Foto © Giorgio Benni, mit freundlicher Genehmigung der Fondazione MAXXI)

Die Bilder der zerfetzten menschlichen Körper stammen aus dem Internet, die verpixelten Bilder der Models und Luxusgüter entnimmt Hirschhorn aus Hochglanzmagazinen. Die Analogie zwischen den ledernen Taschen und der menschlichen Haut fällt einem erst im Verlauf des Rundgangs auf; diese banale Erkenntnis traf mich mit der Wucht einer negativen Epiphanie. Apropos Erleuchtung: Auch das von Hirschhorn konzipierte Lichtkonzept ist ein wichtiges Element der Installation. Der Künstler hat eine Art immersive Kulisse gebaut, in der er uns den Horror und die Heuchelei unserer Gesellschaft vor Augen führt. Nicht das Zeigen von Gewalt und Verstümmelung an sich soll schockieren. Vielmehr reflektiert Hirschhorn über den Umweg des Schocks unseren Umgang damit. Implizit mitgemeint bei dieser Kritik sind auch die Medien, die uns mit dem gleichzeitigen Bedienen von Voyeurismus und dem Vorenthalten und Zensurieren von Informationen gängeln. 

Wie die gut dokumentierte Recherche des Künstlers in der Ausstellung zeigt, nimmt Hirschhorn das Mittel der Verpixelung auch zum Anlass über Abstraktion in der Kunst nachzudenken. Die Themen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit spielen aber auch in der medialen Bildproduktion eine bedeutende Rolle. Denn Medien verdunkeln Dinge bewusst. Der opake Einheitsbrei, den wir konsumieren, kann auch zu einer Abstumpfung unserer Emotionen führen. «The Purple Line» ist so gesehen kein pietätsloses Präsentieren von Gewaltbildern, sondern im Gegenteil ein Aufruf zu mehr Empathie gegen über unseren Mitmenschen. 

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