Performative Bauteile – oder: Die Suche nach räumlicher Komplexität

SWA
14. juli 2022
Eine überhängende Weisskiefer prägt den Bauplatz. Stefan Wülsers Team reagierte mit einer Oberlichtöffnung. Oberhalb des Erdgeschosses musste das Haus aus den 1920er-Jahren aufgrund der schlechten Bausubstanz neu aufgebaut werden. (Foto: Stefan Wülser Architektur)
Herr Wülser, welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


Als Büro interessiert uns die Arbeit mit den inneren Faktoren, die Architektur prägen und mitunter sogar bestimmen. Damit meinen wir gleichermassen die gestalterischen Bedingungen funktionaler und konstruktiver Elemente, aber auch Gesetze und Normen. Um trotz den umfangreichen Anforderungskatalogen und des ökonomischen Drucks eine Architektur mit Tiefe zu schaffen, scheinen uns die intrinsischen Potenziale von Bauteilen interessanter als isolierte gestalterische Ideen. Räumliche Komplexität finden wir im Zulassen und Überzeichnen von Eigenständigkeit, dem Zelebrieren von Bruch- und Schnittstellen und der Abkehr von der überholten Idee, «Dinge aus einem Guss» machen zu müssen.

Die Aufstockung des Hauses in Bassersdorf verhandelt das Gewicht dieser Überlegungen gegenüber einem starken Kontext, der sowohl räumlich als auch klimatisch gegensätzliche Hauptausrichtungen des Hauses bietet und die Idee des frei stehenden, kompakten Wohnhauses herausfordert.

Explosionszeichnung der Elemente: Das bestehende Gebäude blieb bis zur Decke des Erdgeschosses erhalten. Oberhalb musste neu gebaut werden.
Das neue Oberlicht und das Vordach unter der überhängenden Weisskiefer sind exaltierte Elemente. Sie verleihen dem Haus einen besonderen Ausdruck und architektonische Tiefe. (Foto: Stefan Wülser Architektur)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


Schon bei den ersten Begehungen wurden die Potenziale, aber auch die Herausforderungen der eben angesprochenen Zweiseitigkeit deutlich: Das bestehende Haus (1926 gebaut) befindet sich im östlichen Teil des Grundstücks und ist nur knappe fünf Meter von einem dichten Nadelwald entfernt. Es steht unter einer stark überhängend wachsenden Weisskiefer. Dank dieser aussergewöhnlichen Position liegt es entschieden höher im Terrain als die umliegende Bebauung. Es bietet gegen Westen hin eine spektakuläre Aussicht über die Dächer von Bassersdorf und das Glatttal. Man kann bis zur Rückseite des Zürichbergs blicken.

Wir reagierten mit unserem Grundkonzept auf die Zweiseitigkeit und dachten Form, Öffnungsverhalten und Innenräume konsequent im Verhältnis zur Umgebung: angefangen beim Schmetterlingsdach, welches das Dachgeschoss geometrisch zu beiden Seiten öffnet, über die zusätzliche Faltung des Daches im Süden, die eine strukturelle Oberlichtöffnung und ein markantes Vordach zwischen der angesprochenen Weisskiefer und dem Eingang aufspannt, bis hin zu den unterschiedlich konstruierten Fenstern auf den beiden Seiten. Im Innenraum ist die leicht asymmetrische Längswand in beiden Geschossen strukturell wirksam und räumlich prägend.

Diese Detailaufnahme zeigt das Vordach und die Fügung am Gebäudeeck. (Foto: Stefan Wülser Architektur)
Die Fallarmmarkise und der Dachrand (Foto: Stefan Wülser Architektur)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


Selbstverständlich. Unsere Überzeugung, innere Bedingungen der Architektur als Treiber für den Entwurf zu begreifen, gründet nicht zuletzt auf einer intensiven Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit und der Gegenwart. Wir leben in einer Zeit, in der vieles in Bewegung gerät. Der Bausektor hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark digitalisiert. Die Anforderungen an Bauphysik, Langlebigkeit und Flexibilität sind gestiegen, und die Gesellschaft verhandelt zentrale Werte neu. Es stellen sich Herausforderungen, bei deren Bewältigung die Architektur eine wichtige Rolle spielen kann. Obwohl eine gewisse Langsamkeit wohl zum Wesen unserer Disziplin gehört, wollen wir in unserer Arbeit konsequent nach vorne schauen. Wir bauen Häuser für die nächsten Jahrzehnte – nicht für die vergangenen.

Während der Bausektor eine Vielzahl von technischen Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit entwickelt, orientieren sich die räumliche Konzeption und der Ausdruck der Häuser meist an früheren Zeiten. Uns interessiert jedoch, ausgehend von den gegenwärtigen Bedingungen ergebnisoffen und zuversichtlich nach neuen gestalterischen Wegen zu suchen, wie wir Architekt*innen etwas beitragen können.

Diese Detailaufnahme zeigt die Leichtigkeit der neuen Konstruktion. (Foto: Stefan Wülser Architektur)
Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?


Den grössten Einfluss hatten nicht einzelne Produkte, sondern die eben erläuterte Methodik und unsere Offenheit. So haben wir beispielsweise in engem Austausch mit dem Spengler und Eternit Schweiz offene Dachranddetails entwickelt, welche die Dacheindeckung auf den Längsseiten scheinbar über dem Volumen schweben lassen. Bei den Vordächern waren die Berechnungen der Windlasten und die eingeschränkten Möglichkeiten, diese ohne zusätzliche Massnahmen ins Mauerwerk abzuleiten, determinierend für Grösse und Proportion. Zusammen mit den smart gesteuerten Fallarmmarkisen ergibt sich so eine leichte, einfach gebaute, aber sehr performative Hauptfassade. Das kleine Vordach über dem Erdgeschoss ermöglicht die aussen aufgesetzte Montage aller technisch notwendigen Teile und das Öffnen der grossen Balkontüren bei Regen. Es verleiht dem Haus einen eigenständigen Ausdruck.

Immer wieder haben wir uns Fragen gestellt wie: Was kann ein Bauteil? Was kann es nicht? Wie kommen Bauteile zusammen? Wie ermöglichen wir eine optimale Performance mit einfachen Aufbauten und Materialien? Und was bedeutet dies alles für die Geometrie der Räume und die Schnittstellen?

Die Wohnhalle im Obergeschoss hat einen introvertierten Charakter. (Foto: Stefan Wülser Architektur)
Detailaufnahme der strukturellen Oberlichtöffnung (Foto: Stefan Wülser Architektur)
Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten Ihres Büros ein?


Das Haus reiht sich in eine Serie von Umbauprojekten ein. Die anderen Häuser für private Bauherrschaften entpuppten sich jedoch als viel klassischere Umbauaufgaben. Die Antworten auf die sich stellenden Fragen waren viel naheliegender, weil es aus dem Gegebenen ein Maximum herauszuholen galt. Es gab viel mehr wertvolle oder erhaltenswerte Bausubstanz. In Bassersdorf kamen wir früh zu dem Schluss, dass sowohl der Zustand als auch die Qualität der vorhandenen Substanz nur einen teilweisen Erhalt zulassen. Von der Decke über dem Erdgeschoss aufwärts wurde alles neu und entsprechend heutigen technischen Möglichkeiten gebaut. Es zeigte sich jedoch, dass erprobte Strategien wie der Verzicht auf ein «Make-up» oder das exaltierte Überzeichnen autonomer Elemente auch in diesem Fall zu starken Resultaten führen. 

Dementsprechend freuen wir uns sehr, aktuell an zwei Neubauten von Mehrfamilienhäusern arbeiten zu dürfen und dabei die besagten Konstruktionsstrategien weiter vertiefen zu können.

Küche und Träger im räumlichen Widerspruch (Foto: Stefan Wülser Architektur)
Die alte Treppe ist als Fragment in der dienenden Raumschicht erhalten geblieben. (Foto: Stefan Wülser Architektur)
Situation
Grundriss Erdgeschoss
Grundriss Obergeschoss
Querschnitt
Längsschnitt
Bauwerk
Haus in Bassersdorf
 
Standort
Schatzackerstrasse 102, 8303 Bassersdorf
 
Nutzung
Einfamilienhaus
 
Auftragsart
Direktauftrag
 
Bauherrschaft
Privat
 
Architektur
Stefan Wülser Architektur, Zürich
 
Fachplaner
Schnetzer Puskas Bauingenieure, Zürich
Holzprojekt Holzbauingenieure, Luzern
Raumanzug Bauphysik, Zürich
 
Jahr der Fertigstellung
2021
 
Massgeblich beteiligte Unternehmer 
Bauspengler: Werner Stauffer AG, Zürich
Holzelementbau: Kost Holzbau AG, Küssnacht
Baumeister: Huber AG, Bassersdorf
Bandfenster: Huber Fenster AG, Herisau
Aussenöffnende Fenster: Velfac, Horsens
Dächer und Vordächer: Eternit Schweiz AG, Niederurnen
Fallarmmarkise: Kästli Storen AG, Zürich
Malerarbeiten: Farbpalette, Silvio Näf, Aadorf
 
Fotos
Stefan Wülser Architektur

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