Die Idee des Sorgetragens in der Architektur

Susanna Koeberle
15. april 2021
Die Organisation Emergency Architecture & Human Rights (EAHR) realisierte in Jordanien hundert Klassenräume für geflüchtete Kinder. Dafür aktivierte sie gemeinsam mit Bewohner*innen und geflüchteten Menschen in der Nähe des Za’atari Flüchtlingslagers traditionelle Baumethoden. (Foto © Martina Bo Rubino)

Wir hören es nicht gerne und schauen trotz der dringlichen Situation immer noch weg: Doch es steht nicht gut um unseren Planeten. Er befinde sich gar auf der Notaufnahme, so die These von Angelika Fitz und Elke Krasny. Die Direktorin des Architekturzentrums Wien (Az W) und die Stadtforscherin haben die Ausstellung «Critical Care» (das Wort bezeichnet auf Englisch eben auch die Notaufnahme) für das Az W auf die Beine gestellt, das ZAZ erweitert die 21 präsentierten Beispiele mit 22 Projekten für den Schweizer Kontext. Letztere gingen aus einem jurierten Open Call hervor. Bei den internationalen Beispielen handelt es sich ausschliesslich um realisierte Projekte. Das ist wichtig, denn Visionen müssen nicht nur imaginiert, sondern auch umgesetzt werden. Und es zeigt auch, dass dies möglich ist – und zwar mithilfe verschiedener Akteur*innen. Die Zusammenarbeit zwischen der Bevölkerung – den einzelnen betroffenen Gemeinschaften – und unterstützenden Regierungen und Institutionen bringt erstaunliche Resultate hervor. 

Mehr als eine konkrete Tätigkeit im Gesundheitsbereich meint dabei «Care» das Konzept des Sorgetragens. Dieser aus der feministischen Theorie entlehnte Begriff wird erweitert und auf eine allgemeine Haltung unserem Planeten gegenüber ausgedehnt. Denn Veränderungen beginnen im Kopf, die aktuelle Lage erfordert neue Handlungsmuster, eine ganz neue Lebensweise sogar. Nicht für die Zukunft, sondern jetzt! «Gegenwärtigkeit meint hier nicht einen flüchtigen Punkt zwischen schrecklichen oder paradiesischen Vergangenheiten und apokalyptischen oder erlösenden Zukünften, sondern die Verflechtung von uns sterblichen Krittern mit unzähligen unfertigen Konfigurationen aus Orten, Zeiten, Materie, Bedeutungen», so Donna Haraway in ihrem kongenialen Buch «Unruhig bleiben». 

Transformation von 530 Wohnungen in der Cité du Grand Parc in Bordeaux durch Lacaton & Vassal, Frédéric Druot und Christophe Hutin; die Architekt*innen sanierten modernistische Grosswohnbauten, setzten deren Qualitäten konsequent fort und erweiterten sie um grosszügige Wintergärten und Balkone. (Foto © Philippe Ruault)

Auf solche Theorien und Gedanken nehmen auch die Kuratorinnen Bezug. Fitz und Krasny fokussieren auf spezifische Konfigurationen von Orten, auf architektonische Lösungen für konkrete Probleme. Wer sich jetzt fragt, was Architektur mit Klimawandel und Umweltzerstörung zu tun hat, dem oder der sei vorab eine Zahl serviert: 40 Prozent des weltweiten CO2-Austosses werden durch die Erstellung, den Betrieb und den Abriss von Gebäuden verursacht. Hinzu kommt ein ähnlich grosser Anteil am weltweit produzierten Abfall. Fernab einer Zeigefinger-Attitüde beweist die Ausstellung eindrücklich, wie resilient wir Menschen auch sein können, wenn die Not uns dazu treibt. Nur, dass wir gerade hier in der Schweiz in einer gesättigten Gesellschaft leben und dazu noch die besondere Gabe besitzen, ständig zu jammern. Während sich anderswo, in ärmeren Gebieten der Welt, die negativen Auswirkungen des Klimawandels häufen: Artensterben, übersäuerte Ozeane, Hitzeperioden, Überflutungen, Desertifikation, Waldbrände und so weiter und so fort.

Architektur als Teil der Lösung

Damit sind wir mitten im Thema. Doch auch hier gilt: Der Blick wird nicht primär auf Katastrophen gerichtet, sondern auf verschiedene Formen des Sorgetragens. Architektur wird nicht als Teil des Problems gezeigt, sondern als Teil der Lösung. Die Ausstellung ist in fünf «Care»-Bereiche gegliedert. Dabei zeigt sich auch, dass das Handeln auf lokaler Ebene durchaus Auswirkungen auf der globalen haben kann – auch durch seine Vorbildfunktion. Gerade die diesjährige Vergabe des Pritzker-Preises an das französische Büro Lacaton & Vassal weist in diese Richtung. In der Ausstellung begegnen wir ihrem bekannten Projekt in Bordeaux, bei dem sie (in Zusammenarbeit mit Frédéric Druot und Christophe Hutin) Wohnungsbauten aus den 1960er-Jahren sanierten. Statt die Wohnblöcke abzubrechen, versahen sie diese mit einer zusätzlichen Schicht und schufen dadurch für die insgesamt 530 Wohnungen geräumige Wintergärten. Dieser relativ einfache Eingriff verbesserte die Wohnqualität signifikant (wie auch das Video in der Ausstellung vorführt), ohne aber die Umwelt durch Abbruch und unendliche Mengen an neuem Baumaterial zu belasten. Es geht auch mit dem, was da ist, lautet die Message; in den Worten des Ausstellungskonzepts heisst das: Sorge tragen für Reparatur. Oder für Wasser und Grund und Boden, denn diese natürlichen Ressourcen sind lebenswichtig; gerade der Zugang zu sauberem Wasser ist heute gefährdet. Auch hier zeigt ein Projekt, wie sich gute Ideen durch kollaborative Prozesse relativ einfach umsetzen lassen: Bei der Revitalisierung eines historischen Bewässerungssystems in Spanien spannten Architekt*innen und Stadtplaner*innen mit lokalen Vereinen zusammen. Es entstanden nicht nur neue Gemeinschaftsgärten, sondern auch Stege, auf denen die Bevölkerung in der Natur spazieren kann. 

Rural Urban Framework hat nach schweren Erdbeben und Erdrutschen in der chinesischen Provinz Sichuan in Zusammenarbeit mit der lokalen Regierung in Jintai ein Modellprojekt für eine nachhaltige Dorfentwicklung realisiert. (Foto © Rural Urban Framework)
Vorzeigebeispiele aus der ganzen Welt

Die Beispiele aus Europa führen vor, dass diese Themen auch bei uns aktuell sind und eine Verbesserung der Lebensqualität bewirken können. Erwähnt sei hier auch die Rolle des öffentlichen Raumes, der wegen der Spekulation gerade im urbanen Kontext immer mehr unter Druck gerät. Wir leben im Kapitalozän, wie Donna Haraway nicht müde wird zu betonen. Der Begriff Anthropozän steht nicht nur bei ihr in der Kritik, da er von einem wesentlichen Problem ablenkt. Häufig stehen nämlich gerade finanzielle Interessen von grossen Firmen einer Veränderung im Wege. Das zeigt übrigens auch Naomi Klein in ihrem 600-seitigen Wälzer «Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima» auf glasklare und faktenbezogene Art. Die Lektüre lohnt sich! 

Den Blick auf die globale Dimension richten Projekte, die im Kontext der Hilfsindustrie stehen. Drei Beispiele aus Pakistan, Indien und Jordanien verdeutlichen den Wert von Hilfe, die sich aus dem gegebenen Ort heraus entwickelt und nicht von aussen diktiert wird. Die Architektin Yasmeen Lari etwa unternimmt eine Wiederbelebung von traditionellen pakistanischen Bambus- und Lehm-Konstruktionen und entwickelt Häuser, die flutresistent sind. Ähnlich in Jordanien: Zusammen mit Geflüchteten und lokalen Handwerker*innen reaktiviert Emergency Architecture & Human Rights (EAHR) lokale Bautraditionen und baut in der Nähe des Flüchtlingscamps Za’atari Schulen. Altes Wissen geht nämlich gerade im Zuge der Globalisierung verloren. Viele Hilfsprojekte fördern am Ende gar die Passivität und die Hilflosigkeit der Betroffenen – wobei ich nicht alle fremden Hilfsprojekte schlecht machen will. Ziel muss aber das «Empowerment» der Hilfsbedürftigen sein. Das kann auch geschehen, indem ein kultureller Transfer stattfindet. 

Die Kounkuey Design Initiative entwickelt gemeinsam mit Grassroots-Organisationen produktive öffentliche Räume in Kibera, Nairobi, um ökologische Anliegen, sanitäre Einrichtungen, lokale Alternativ-Ökonomien und Sicherheit miteinander zu verbinden. (Foto: Jesús Porras © Kounkuey Design Initiative)

Die zentrale Rolle von Kenntnissen und Fähigkeiten für das Überleben einer Gemeinschaft zeigt sich übrigens auch in unseren Breitengraden. Der Landflucht in Bergregionen etwa begegnen verschiedene Initiativen mit der Pflege des Lokalen – das geht auch ganz ohne das Zelebrieren von rückwärtsgewandten Heimatgefühlen. Mit der Situation in ihrer Heimat setzten sich Schweizer Architekt*innen dem Aufruf des ZAZ folgend auseinander. Die 22 ausgewählten Projekte beweisen, dass sich auch bei uns etwas tut. Pionierarbeit diesbezüglich hat hierzulande etwa Barbara Buser geleistet; das von ihr mitbegründete Baubüro in situ gewann letztes Jahr den Prix Meret Oppenheim. Weitere Impulse setzt die Schau im ZAZ mit Beiträgen, die von der Gruppe Countdown 2030 zusammengestellt wurden. Führungen und Spaziergänge ergänzen diese wichtige Präsentation, die sich alle (!) anschauen sollten. Auch solche Menschen, die weder mit Architektur noch mit dem Thema Klimawandel etwas am Hut haben. Wobei letzteres eine Haltung ist, die sehr, sehr schnell verschwinden müsste, sonst laufen wir Gefahr, dass die Situation plötzlich kippt.

Die Schau im Zentrum Architektur Zürich (Höschgasse 3) dauert bis 29. August 2021. Die Öffnungszeiten sind von Mittwoch bis Sonntag jeweils von 14 bis 18 Uhr.
 
Es werden verschiedene Veranstaltungen angeboten. Informieren Sie sich auf der Website des ZAZ über das Programm.

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