Ein besonderer Blick auf die Stadt Zürich

Susanna Koeberle
22. augustus 2019
Im ersten Raum befindet sich eine Skulptur von MICKRY 3. (Foto: Schweizerisches Nationalmuseum)

So einfach ist das eben doch nicht mit Zürich. So heisst nur der Slogan («Einfach Zürich») der permanenten Ausstellung im Landesmuseum. Vielmehr gelingt es diesem «Zürcher Schaufenster» hinter die Fassade dieser wohl eher properen (oder ist das die gestörte Selbstwahrnehmung einer Stadtzürcherin?) Wirtschaftsmetropole zu blicken. Das beginnt schon beim Einstieg. Eine riesige Skulptur des Zürcher Künstlerinnentrios MICKRY 3 empfängt die Besucher*innen und wirft einen schmunzelnden Blick auf die Stadt und ihre sogenannten «Hotspots». Diese gehören eben glücklicherweise nicht zu den üblichen Verdächtigen, sondern sind ganz persönlicher Natur. In der überdimensionalen Skulptur sehen wir etwa zwei Graureiher, eine Skulptur von Fischli/Weiss (eine Hommage an die von MICKRY 3 verehrten Künstler), die Ganymed-Skulptur (1952) von Hermann Hubacher beim See (die zum Symbol der homosexuellen Kultur Zürichs wurde) oder die Emma-Kunz-Grotte in Würenlos – also definitiv nicht das, was in einem klassischen Zürichguide steht. Genau dieser unkonventionelle und zugleich vertiefte Blick auf die Vielfalt der Limmatstadt macht den Reiz und Unterhaltungswert der Ausstellung aus (man lernt sogar als Stadtzürcherin dazu!). Konzept, Inhalt und Gestaltung stammen von Holzer Kobler Architekturen und Heller Enterprises (Simone Haar, Martin Heller, Tristan Kobler und Maria Tschudi Bebié). Die Saaltexte sind lesbar (also nicht zu lang) und informativ, die Mischung von digitalen Ausstellungsformaten und reellen Artefakten ist ausgewogen. Das sind schon mal gute Voraussetzungen.

Vitrinen mit unterschiedlichen Objekten (Foto: Schweizerisches Nationalmuseum)

Immer noch im ersten Saal findet sich eine wandfüllende Installation mit 20 Kurzvideos. «Einfach Pfrungen» (noch nie gehört…) heisst es zum Beispiel, «auch das ist Zürich». Wir sehen einen jungen Mann, der auf einer Bahnhofsbank übernachtet. Ein Passant deckt ihn zu und legt ihm am Morgen Gipfeli und Kaffee hin: «In Pfrungen ist man füreinander da», lesen wir. Na ja, ob das in der Stadt auch so wäre? Das spielt auch keine Rolle, vielleicht ist es einfach als Appell zu verstehen. Nach dem Kurzfilm kommt ein Standbild und das Auge schweift auf einen weiteren Film. Damit kann man schon ziemlich viel Zeit verbringen. 

Noch mehr Interesse erregt die Installation im zweiten Saal, ein riesiges schrankartiges Konstrukt mit vielen Schaukästen, die bis anhin 60 Objekte beherbergen. Einzelne dieser Glasvitrinen sind noch verschlossen und leer, denn zum Konzept gehört, dass dieser «Zürcher Kosmos» sukzessive weiter wachsen soll. Auf vier Seiten gibt es Bildschirme mit Bildgeschichten, die man über Touchscreens aktivieren kann. Was man da alles erfährt, ist wahrlich ein Sammelsurium der zum Teil absonderlichsten Storys! Witzig ist zum Beispiel, wie die Geschichte der Zürcher Kanalisation in einer WC-Ente ihren Statthalter findet. Das ist aber kein Gag, denn dieses nützliche und uns allen vertraute «Designobjekt» wurde in Zürich erfunden. Etwas makaber ist die Wachs-Moulage einer Frauenbrust, die Symptome einer Syphilis-Erkrankung zeigt. Dazu erfährt man, dass viele Frauenberufe damals sehr schlecht bezahlt waren (und heute?) wie etwa Kellnerin. Diese Frauen mussten für Kost und Logis arbeiten und waren auf Trinkgeld angewiesen. Vielen blieb nur der Weg in die Prostitution (womit auch die Gefahr einer Ansteckung stieg). Diese war zwar legal, aber dennoch wurde das Anwerben von Freiern strafrechtlich verfolgt. Haarsträubend. Geschichten wie die der italienischen Immigration, die Rolle der Seidenindustrie, das Leben des Zürcher «Zaren» Alfred Escher oder was Heidi mit Zürich zu tun hat, sind Teil dieses historischen Panoptikums, das immer wieder den Bogen in die Gegenwart schlägt. 

Filmische Präsentation mit Punktwolken-Technologie (Foto: Jan Bitter/Holzer Kobler Architekturen)

Den dritten Raum füllen vier filmische Präsentationen, die auf der Basis der Punktwolken-Technologie realisiert wurden. Diese vom Lehrstuhl von Christophe Girot und dem ETH Start-up «Scanvision» entwickelte Form der Messung und 3D-Darstellung ist eindrücklich anzusehen oder mehr noch: zu erfahren! Denn akustische und sensorische Elemente sind dabei ebenso präsent. Zuschauer*innen können etwa durch den Zürcher Hauptbahnhof (aktuell auch prominent im Museum für Gestaltung in der Ausstellung «SBB CFF FFS» in Szene gesetzt) «fliegen» und bis in dessen Unterwelt hineinzoomen. Dabei erscheint einem die Welt als eine Ansammlung von immateriellen Schleiern. Es gibt keine feste Materie mehr, sie verflüchtigt sich in einer Datenwolke. Diese Erfahrung hat zwar auch etwas Beängstigendes, zeigt aber auch, wie eine Stadt immer auch aus unsichtbaren Schichten besteht. Diese aufzudecken und freizulegen ist das Verdienst dieser Ausstellung.

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