Ein Spaziergang durch Attisholz

Manuel Pestalozzi
8. juni 2023
Aus nördlicher Richtung kommend, durchwandert man auf dem Weg zum Attisholz-Areal eine idyllische Landschaft. Erst allmählich kommen der Hochkamin und der Säureturm der einstigen Cellulosefabrik in Sicht. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Über die Entwicklungen auf dem Areal der 2008 stillgelegten Cellulosefabrik Attisholz haben wir bereits des Öfteren berichtet: Seit 2016 läuft die Transformation einer der grössten Industriebrachen der Schweiz. Getragen wird sie von der Standortgemeinde Riedholz, dem Kanton Solothurn und dem Immobilienunternehmen Halter. Bis 2045 sollen auf dem Gelände 1200 Wohnungen entstehen, dazu 50'000 Quadratmeter Geschäftsflächen sowie 170'000 Quadratmeter an öffentlichen Boulevards, Promenaden und Plätzen.

Seit der Öffnung im Jahr 2018 haben sich bereits vielfältige Angebote auf dem Areal etabliert. – Zeit also für eine Besichtigung. Allen Abenteuerlustigen, die das Attisholz-Areal noch nicht kennen und eine spannende Mini-Städtereise wagen möchten, empfiehlt sich die Anreise ab Solothurn oder Oensingen. Von dort gelangt man mit der Bahn zur Haltestelle der Gemeinde Riedholz, zu deren Gebiet das Attisholz gehört. Ab hier geht es zu Fuss weiter. Aus nördlicher Richtung entlang des Südfusses der Jurakette gelangt man zum Areal. Die stille Nebenstrasse mit Trottoir führt sanft abwärts durch den Wald. Zur Linken taucht nach rund 250 Metern eine Sportanlage mit Tennisplätzen auf. Die Strasse wird nun etwas steiler, die Bäume weichen zurück. Die Topografie beginnt ein bukolisches Tal zu formen, an dessen Hänge sich vereinzelt ältere Anwesen und Gehöfte schmiegen. Auf die besagte Sportanlage folgt ein kleiner Palast mit Ehrenhof. Dieses Gebäude aus dem 18. Jahrhundert beherbergte früher das bereits seit dem Spätmittelalter bestehende Bad Attisholz, ein beliebtes Ausflugsziel der Menschen aus Solothurn und Umgebung. Doch seit 1945 ist von dem einstigen Bad nur noch ein Restaurant geblieben, das heute zum Attisholz-Areal gehört. Erst wenn man jenes passiert hat, rücken der Hochkamin und der Säureturm der Celluslosefabrik ins Blickfeld.

Die stillgelegte Industrieanlage ist eingezäunt und wird unterhalten. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Nachdem man noch einige weitere Höhenmeter abgestiegen ist, wird man der wahren Grösse des Areals gewahr. Die ersten Gebäude nach dem einstigen Bad sind Wohlfahrts- und Bürobauten. Sie sind von einem Zaun mit oben angespitzten Holzlatten umgeben. Hinter diesem scheint die Zeit um das Jahr 1980 stehen geblieben zu sein. Nach einer Strassenbiegung nach links rückt das Ufer der Aare ins Blickfeld, das östliche Ende des Areals mit den Parkplätzen ist erreicht. An diesem peripheren Punkt befindet sich der Zutritt zum Gelände. Aus der Hauptachse der Anlage ist inzwischen der sogenannte Boulevard geworden.

An der Hauptachse der stillgelegten Industrieanlage, dem heutigen Boulevard, ist neues Leben eingezogen. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Beim Zugang zum Areal kennzeichnet eine rote Drehscheibe den Auftakt des Boulevards. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Gastronomie, Events und Kunst bringen Leben in die Industriebrache

Dieser Boulevard steht bei den Anstrengungen, die die aktuelle Eigentümerin, das Immobilienunternehmen Halter, unternimmt, um das Areal zu bespielen, im Zentrum. Man bemüht sich stark darum, die postindustrielle Identität und den besonderen Charakter des Ortes nachhaltig zu festigen, bevor die ersten tiefen Eingriffe in die Substanz vorgenommen werden: Zwei Lokale mit Pop-Up-Charakter, sie heissen Kantine und La Chiquita Bar Café, haben mittlerweile eröffnet. Hinter der riesigen Dampferzeugungsanlage mit dem erwähnten Hochkamin wurde neu eine permanente Tribüne aufgebaut. Auf dem grossen Platz davor finden Freiluftfestivals statt. 

Über die Tribüne gelangt man auf den erhöhten Kochereiplatz, der vom markanten Säureturm überragt wird. Spiel- und Aufenthaltsbereiche, Feuerstellen und neu gepflanzte Bäume laden hier zum Verweilen ein. Aus den unterirdisch verbundenen Fundamenten alter Lagertanks ist ein einzigartiger Spielplatz geworden.

Neu wurde auf dem Gelände eine Tribüne errichtet, vor der Freiluftfestivals stattfinden. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Der Aufstieg vom Boulevard über die Tribüne lässt erahnen, dass das Attisholz-Areal schon im jetzigen Zustand eine veritable «Promenade architecturale» bereithält. Die Plattform ist auch eine Aussichtsterrasse, von der aus man über den neu geschaffenen Aareplatz hinweg zum Fluss hinabblickt. 

Ausserdem hat man über sie Zugang zur westlich anschliessenden Kiesofenhalle, dem grösste Gebäude Cellulosefabrik, das in den 1950er-Jahren errichtet wurde. Die 95 Meter lange und 33 Meter breite Industriehalle lässt sich für Events mieten. Eine Galerie verläuft entlang ihrer Südfassade und erlaubt einen Blick über den westlichen Teil des Areals. Dort befinden sich weitere Grossbauten, die jedoch nicht zugänglich sind. 

Der Kochereiplatz über dem Boulevard erschliesst die grosse Kiesofenhalle. Von dort sieht man auf den nicht zugänglichen Teil des Geländes. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Der Kochereiplatz und der Aareplatz sind über eine grosse Spiralrampe miteinander verbunden. Auf ihr lässt sich der Rundgang fortsetzen. Am Aareplatz steht das einstige Trafohaus. Seine Fassade wurde vom Verein Beneath The Surface (BTS) golden überstrichen. Es dient ihm aktuell unter dem Namen Museum of Urban and Vandalism Art (MUVA) als Ausstellungsraum. Zu sehen ist in den verschiedenfarbig gestrichenen Räumen noch bis zum 29. Oktober dieses Jahres eine Retrospektive, die auf dem Areal zwischen 2009 und 2023 entstandene Kunstwerke zeigt. Zu diesen Arbeiten gehören Installationen, die Dokumentation verschiedener Aktionen und auch Hinweise auf die Graffiti-Kunstwerke, die in der Gestaltung des stillgelegten Industriegeländes eine besondere Rolle spielen. Die Begehung der Ausstellungsräume auf drei Geschossebenen ist nicht barriere- und stolperfrei und in jeder Hinsicht aufregend. Das MUVA ist sonntags von 11 bis 16 Uhr geöffnet. 

Aus den Ausstellungsräumen des Museum of Urban and Vandalism Art fällt der Blick über die Aare auf Solothurns neue Kehricht­verwertungs­anlage, die sich gerade im Bau befindet. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Überraschungen, Einsichten und Ausblicke

Der Weg aus dem Areal erfolgt vorzugsweise in südlicher Richtung. Er führt wieder über die Drehscheibe am östlichen Ende des Boulevards. Der Aareplatz ist über einen Trampelpfad mit ihm verbunden. Die Hauptachse verläuft hier quasi als Tunnel unter der Plattform beim Gärturm. Der Turm ist aus dem riesigen Gewölbe durch grosse Bodenroste zwischen den Betontragrahmen klar erkennbar – eine der zahlreichen visuellen Überraschungen auf dem Rundgang über das Gelände. 

Die Drehscheibe diente einst dazu, Güterwaggons umzuschwenken, sodass sie die Eisenbahnbrücke über die hier rund 90 Meter breite Aare überqueren konnten. Neben der Brücke verläuft ein Fussgängersteg, über den sich die Stadtwanderung fortsetzten lässt. Beim Umdrehen fällt der Blick zum ersten Mal auf die «Schauseite» des Areals, das sich als grosse, dicht gestaffelte Gruppe von Bauten präsentiert. Diese Ansicht weist eine beinahe repräsentative Prägnanz auf, die man möglichst respektieren und bewahren sollte.

Vom Steg neben der alten Eisenbahnbrücke über die Aare blickt man auf die «Schauseite» des Areals. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Das ebene Gelände südlich der Aare gehört nicht mehr zur Gemeinde Riedholz, sondern zu Luterbach. Es diente der Cellulosefabrik als ausgedehnte Lagerstätte für Holz- und Holzschnitzel mit Gleisanschluss. Nach der Stilllegung der Fabrik kaufte der Kanton Solothurn das Gebiet Attisholz-Süd mit der Absicht, dort Firmen anzusiedeln. Das Biotechnologieunternehmen Biogen errichtete in der Folge eine neue Produktionsanlage, die seit rund fünf Jahren in Betrieb ist. Der Kanton realisierte derweil den Uferpark Attisholz, der ins regionale Wander- und Velowegnetz eingebunden ist. Zu ihm gehören auch zwei kleine Badestrände und eine Stufenanlage zum Flussufer.

Die alte Kantine am südlichen Ende der Eisenbahnbrücke aus dem Jahr 1881 ist der einzige Hochbau der Cellulosefabrik, der am Südufer erhalten wurde. Heute ist in den alten Bau ein Restaurant eingezogen. Bewahren liess sich zudem die ausgedehnte Kläranlage. Die vielen Kammern wurden mit Durchbrüchen verbunden und zu einem grossen Spielplatz umgewandelt, einige sind inzwischen auch begrünte Zierteiche. Auch die Begehung dieser grossen Rauminstallation mit zwei Niveaus ist voller Überraschungen, Einsichten und Ausblicke. Die Diskrepanz zwischen der hohen Dichte am Nord- und der «Weite» am Südufer wird so auf spannende Weise überbrückt, was die Fantasie der Besucher*innen anregen dürfte. 

Die ehemalige Kläranlage am Südufer der Aare wurde in den neuen Uferpark integriert. Dieser grenzt an die Produktionsanlage des Biotechnologieunternehmens Biogen. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Eine vielversprechende Basis für künftige Stadtentwicklung

Das Areal der einstigen Cellulosefabrik ähnelt auch insofern einer Stadt, als es wohl immer «unfertig» bleiben wird. Wer dort nach Perfektion oder Abgeschlossenheit sucht, ist an der falschen Adresse. Stattdessen wird man in und um das Attisholz einen dynamischen Entwicklungsprozess verfolgen können, der gelegentlich auch holprig verlaufen dürfte. Die Grundsubstanz der Anlage weist aber in Kombination mit der Landschaft Qualitäten auf, die ein ausgezeichnetes Fundament für die Zukunft bieten. Den Spaziergang kann man abschliessen beim nahen Bahnhof Luterbach, wobei es sich lohnt, auf dem Weg dorthin regelmässig einen Blick zurück auf diese in ihrem Wesen einmalige urbane Landschaft im Schweizer Mittelland zu werfen.

Eine Promenade führt vom Bahnhof Luterbach aus zum Uferpark Attisholz und zur Brücke, über die man schliesslich auf das Areal gelangt. (Foto: Manuel Pestalozzi)

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