Pia Zanetti: Eine Frau, die Vorurteile zerlegt

Nadia Bendinelli
11. maart 2021
Pia Zanetti, Pozzuoli, Italien, 1970 (© Pia Zanetti)

Pia Zanetti wollte schon immer Fotografin werden – im Basel der 1960er-Jahre weigerte man sich aber hartnäckig, die junge Frau als Lehrtochter einzustellen: Die grossen Apparate seien zu schwer für eine so zierliche Person. Ein Glück, liess sie sich davon nicht entmutigen. Immerhin bot sich ihr die Möglichkeit, die gewünschte Lehre bei ihrem älteren Bruder, dem Werbefotografen Olivio Fontana, zu absolvieren. Zwar wollte sie genau das eigentlich vermeiden, der Wunsch, den Beruf zu erlernen, war aber grösser. Und entgegen ihrer anfänglichen Befürchtung erhielt sie keine Vorzugsbehandlung: «Mein Bruder war ein seriöser Lehrmeister», erklärt sie. So lernte die junge Pia nicht nur das Fotografieren: Für ihren Bruder sollte sie Abzüge an das Basler Volksblatt verkaufen. Die Aufgabe bestand darin, sich diese sofort und in bar bezahlen zu lassen und vor allem solange zu beharren, bis das Ziel erreicht war. Sich behaupten zu müssen, war eine wichtige Erfahrung für die Zukunft einer der ersten Fotojournalistinnen der Schweiz.

Der Kontakt mit der Redaktion brachte weitaus mehr ein als erwartet: Sie begegnete dem Journalisten Gerardo Zanetti – ein beruflicher wie privater Glücksfall für beide. 1963 heirateten sie und wurden zugleich zu einem erfolgreichen Reporterduo, das in der Lage war, umfassende Reportagen auf hohem Niveau an verschiedene Redaktionen zu verkaufen. Frisch vermählt zog das Paar nach Rom, wo die Vorurteile gegen Frauen mindestens so gross waren wie in der Schweiz. Die Fotografin war damals gerade 20. Die Paparazzi – «Schränke von Männern», wie sie sich heute erinnert – beobachteten die neue Konkurrentin mit einem mitleidigen Lächeln, kopfschüttelnd. Sie fragten sich, was «die Kleine» da verloren habe. Weit und breit war in Italiens Hauptstadt keine andere Frau als Fotojournalistin tätig. Ihre zierliche Statur wurde ihr Vorteil: Sie konnte unbemerkt beobachten und auch deshalb besonders gute Bilder schiessen. Mit der Zeit wandelte sich die allgemeine Skepsis in Anerkennung. Dazu wusste Zanetti genau, was sie erreichen wollte – allfällige Hindernisse, so absurd diese auch sein mochten, gehörten eben zum Spiel.

Pia Zanetti, Max Frisch, Zürich, 1965 (© Pia Zanetti)
Pia Zanetti, London, 1967 (© Pia Zanetti)
Aus 2 wird 1+1

Rom und später London wurden für die Zanettis zu Ausgangspunkten vieler Reisen durch Europa, Südafrika und Nordamerika. Die Illustrierten waren in den 1960er-Jahren – heute undenkbar – bereit, alle Reisekosten und weiteren Spesen zu übernehmen, um an gute, umfassende Reportage-Pakete aus Text, Fotografien und Bildlegenden zu kommen. Gerade weil es nicht allen möglich war, einfach so aufzubrechen und zu verreisen, konnten die Printmedien dank solcher Berichte ihre Leser zumindest davon träumen lassen. Damit ist allerdings kein idyllisches Stranderlebnis gemeint: Das Weltgeschehen sollte gezeigt werden. Die Woche (1951–1973), einer der Auftraggeber, legte Wert auf soziales Engagement, strebte eine hohe Qualität der Inhalte an und beauftragte dafür die besten Fotografen. Pia und Gerardo lieferten exklusive Geschichten. Zum Beispiel reisten sie kurz vor dem Militärputsch am 21. April 1967 nach Griechenland, um über die angespannte politische Lage zu berichten. Auch hier machte sich die Fotografin die Vorurteile gegen sie zunutze: Mit ihrer mädchenhaften Erscheinung konnte sie sich vor den Militärs dumm stellen, in eine Richtung schauen und in die andere fotografieren. Es folgte Reportage auf Reportage, die Ideen kamen dabei oft vom eingespielten Duo selber.

Spätestens nach der Geburt ihres zweiten Kindes 1971 mussten Pia und Gerardo neue Wege finden, um ihrer Arbeit nachzugehen. Die Aufträge wurden nun getrennt angenommen und das Kinderhüten – sehr fortschrittlich für die damalige Zeit – untereinander aufgeteilt. Mittlerweile lebten die Zanettis im Tessin – neuer Ausgangspunkt für weitere Reisen, aber auch Heimat, Ruhezone und Rückzugsort für die Familie. Aufgrund der Arbeitstrennung schlug die Fotografin eigene Wege ein. Die Neue Zürcher Zeitung, Das Magazin des Tages-Anzeigers und die Kulturzeitschrift Du gehörten neu zu ihren Auftraggebern. Ferner war sie nicht mehr Teil eines festen Teams, verschiedene Autoren und Journalisten standen ihr zur Seite. Nicht nur Magazine, Agenturen oder Firmen, sondern auch Unicef, Caritas, Terre des hommes und weitere NGOs beauftragten Zanetti – was ihren Drang, die Welt zu sehen und sich gleichzeitig als Fotografin zu behaupten, befriedigte. So sehr, dass sie mit 50 nach Zürich zog, wo sie bis heute lebt und arbeitet, um dort noch einmal «richtig Gas zu geben». 

Pia Zanetti, Fischer in Kapstadt, 1968 (© Pia Zanetti)
Pia Zanetti, Tiruppur, Indien, 1997 (© Pia Zanetti)

Zanettis soziales Engagement zeigt sich in ihren Bildern und in der Wahl ihrer Arbeitgeber – aber auch privat entschied sie sich mit Gerardo für einen wichtigen Schritt: 1973 reiste er beruflich nach Saigon, wo er unter anderem ein Waisenhaus besuchte. Seine Erlebnisse vor Ort und die darauffolgenden Gespräche mit Pia liessen bei den beiden die Entscheidung reifen, ein Kind zu adoptieren – ein Mädchen, denn Waisenmädchen hatten in Vietnam noch üblere Zukunftsaussichten als ihre männlichen Leidensgenossen. So wurde Thu Thau, irgendwann im Herbst 1972 geboren, zu Nina Zanetti. Ein neues Leben mit besseren Aussichten. 24 Jahre später verspürte die junge Frau den Wunsch, ihre ursprüngliche Heimat samt des Waisenhauses zu sehen und ihre Erlebnisse als Reportage zu veröffentlichen. Begleitet von einer Journalistin und mit ihrer Mutter als Fotografin bereiste sie ein Land, aus dem sie zwar stammt, wo aber alles fremd schien und manches gar beängstigend. Durch Gespräche und aus Erzählungen erfuhr sie, dass Waisenmädchen in Vietnam zumeist Prostituierte, Arbeiterinnen oder Nonnen werden. So brachte die Suche nach den Wurzeln vermutlich auch Erleichterung mit sich: Die Entscheidung ihrer Eltern hat Nina viel Leid erspart.

Ein Buch für ein Lebenswerk

Es ist nicht die Regel, dass sich in Arbeiten aus einer jahrzehntelangen Schaffenszeit so deutlich ein roter Faden zeigt wie bei Pia Zanettis Fotografien. Liest man das kürzlich bei Scheidegger & Spiess erscheine Buch «Pia Zanetti. Fotografin», versteht man rasch, dass sich für sie alles um den Menschen in seinen Lebensumständen dreht. Sie weiss eine Person diskret aus der Masse hervorzuheben und sie mit Einfühlungsvermögen zu betrachten. Sie will ihre Geschichte erzählen und ihr Würde verleihen. Immer sind Emotionen in all ihren Formen gegenwärtig. Man könnte meinen, wer so viel Leid fotografiert hat, sei nicht mehr imstande, das Schöne zu sehen. Doch Pia Zanetti liess sich nicht abstumpfen: Auf ihren Reisen verliess sie zwar immer wieder die Komfortzone und war mit schwierigen, ja gefährlichen Situationen konfrontiert, hat aber gleichzeitig auch Hilfsbereitschaft, Würde, Schönheit und gar Witz erlebt. 

Pia Zanetti, Herbstmesse in Basel, 1960 (© Pia Zanetti)

Im Hauptteil des Buches findet sich eine Auswahl von Fotografien. Sie sind thematisch aufgeteilt und schildern Zanettis Schaffen ab 1960. Am Ende werden sie in Briefmarkengrösse wiederholt und mit Hintergrundinformationen versehen. Zwei Essays liefern Einblicke in die Persönlichkeit der Fotografin, ihre Haltung und natürlich ihr Schaffen. Aus zahlreichen Anekdoten erfährt man zum Beispiel, wie damals den Schweizer Redaktionen Reportagen aus Amerika geliefert wurden oder wie stark die Fotografin betroffen war, als sie noch ganz jung mit der Apartheid konfrontiert wurde. Enthalten sind auch Abbildungen einiger Publikationen, die eine Vorstellung davon vermitteln, wie Pia Zanettis Fotografien verwendet wurden. Das Buch ist ein schönes Objekt und bringt eine grossartige Fotografin und faszinierende Persönlichkeit näher.

Pia Zanetti. Fotografin

Pia Zanetti. Fotografin
Peter Pfrunder mit Jürg Trösch (Hrsg.)
Mit Beiträgen von Nadine Olonetzky und Peter Pfrunder

240 x 340 Millimeter
196 Pagina's
353 Illustrations
Klappenbroschur
ISBN 9783039420087
Scheidegger & Spiess
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