Unheimliche Schönheit: Wenn Kunst die Natur simuliert

Sabine von Fischer
14. april 2022
Ursula Palla, «Landscape 5 Part 3», 2013/2022, 3000 Angelhaken, Fischerdraht (Ausstellungsansicht © Bündner Kunstmuseum Chur)


Das Wort «Anthropocene» war sogar in Fachkreisen noch wenig bekannt, als Ursula Palla während der 1990er-Jahre ihre frühen Arbeiten in Ausstellungen zeigte. Unterdessen findet das Anthropozän auch eingedeutscht breite Verwendung. Und Ursula Pallas künstlerische Werke sind in diesem Frühjahr in mehreren Ausstellungen erlebbar: derzeit in einer Retrospektive im Bündner Kunstmuseum Chur und in einer Installation in der Johanneskirche beim Zürcher Limmatplatz, ab Ende Mai zeigt auch das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil-Jona eine Serie neuer Arbeiten.

Einen direkten Zusammenhang zwischen der Verbreitung des Worts zur Beschreibung eines «geologischen Zeitalters des Menschen» und dem zunehmenden Interesse an Pallas Arbeiten gibt es nicht. Zufällig ist der parallele Aufschwung von Wortverbreitung und Werkpopularität aber auch nicht: Schliesslich beunruhigt es immer breitere Kreise, dass die oberen Erdschichten zunehmend menschgemacht sind. Die Erdkruste besteht nicht mehr nur aus Gesteinen, Sand, Erde und Wasser, sondern immer mehr aus synthetischen Kunst- und Kohlenstoffverbindungen. Wörter wie «Technofossilien» und «Mikroplastik» gehören bereits ins Primarschulvokabular.

Dass dem Entsetzen, das mit diesen tiefgreifenden Veränderungen der Umwelt einhergeht, auch eine Schönheit innewohnt, ist unter anderem in Ursula Pallas Arbeiten erlebbar: Risse in der Erde, explodierende Pflanzen, gefesselte Vögel, rauchende Schuhe, schmelzende Schneemänner oder eine Wetterstation auf dem Mars schaffen poetische Szenerien, die immer auch eine Gesellschaftskritik beinhalten.

 

Ursula Palla, «Tausend 2 Part 2», 2014, Videoinstallation, 12 Monitore, 3–5 Minuten, ohne Ton (Ausstellungsansicht © Bündner Kunstmuseum Chur)
Schönheit im Schockerlebnis

Die Betrachter*innen kommen nicht darum herum, die Unterscheidung zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen zu hinterfragen. Schon zu Beginn ihrer Karriere widmete sich Ursula Palla den künstlichen Naturen und der künstlerischen Darstellung von Natur. In ihrer dokumentarischen Videoinstallation «Flowers IV» von 2004 zeigt sie, wie auf dem niederländischen Blumenumschlagplatz Aalsmeer weisse Blumen in chemische Farbbäder getaucht, ausgeschüttelt und verpackt werden. Naturschönheit und Sondermüll rücken zusammen.

Das Schöne wird unheimlich und schockiert bisweilen: In «Flowers I» (2001–2003) zeigt eine Videoprojektion ein farbenprächtiges Blumenbouquet in dunkler Vase vor einem tiefblauen Hintergrund, beinahe ein Stillleben, nur bewegt ein leichter Luftzug die Blätter. Doch dann, ausgelöst durch einen Bewegungsmelder im Ausstellungsraum, explodiert der Strauss in hundert Fetzen. Die Zerstörung schockiert nicht nur dadurch, dass sie überraschend geschieht, sondern auch durch die von ihr ausgehende Schönheit. Zerfetzt werden hier nicht nur Blumen, sondern auch gesellschaftliche Übereinkünfte.

Naturschönheit taucht in den Arbeiten von Ursula Palla immer wieder auf. Die technische Finesse der Multimediainstallationen tritt dabei immer zurückhaltend in Aktion. Nicht die Programmierung beeindruckt, sondern die Idee, die dahintersteht. In Rauminstallationen und bewegten Bildern wird menschgemachte Natur so sichtbar, hörbar und erfahrbar, dass sich tausend Fragen auftun.

 

Ursula Palla, «Das Karamellzimmer I», 2018/2022, gebrannter Zucker (Ausstellungsansicht © Bündner Kunstmuseum Chur)
Zuckerbäckerei in der Villa

Am Ende von Ursula Pallas Ausstellung «Nowhereland», die derzeit im Bündner Kunstmuseum Chur gezeigt wird, steht das «Karamellzimmer I» im grossen Wohnraum der Villa Planta, dem Haupthaus des Museums. Die Installation mit aus Zucker nachgeformten Stühlen und Tischen ist eine Hommage an die Zuckerbäcker der Region, inszeniert in einer Art Spiegelkabinett aus unregelmässig am Boden verlegen Spiegelplatten. Alles wirkt brüchig, vergänglich und würde bestimmt süss schmecken, wenn eine Zunge die fragilen Objekte berühren würde. Aber wir sind im Museum, das Auge wird genügen, die Nase fängt eine Idee von zuckersüssem Staub ein, die Schritte der Besucher*innen knarren auf dem Parkettboden. Reflexionen der angeschlagenen Zuckerobjekte brechen an den Rändern der Spiegel zu einem Wimmelbild, gerahmt von den historischen Ornamenten aus der kolonialen Vergangenheit der Villa.

«Nowhereland» zeigt Arbeiten aus den letzten zehn Jahren. Im 2016 eingeweihten Erweiterungsbau des Bündner Kunstmuseums findet der Hauptteil der grossen Retrospektive statt. (Entworfen haben den Toblerone-Block die spanischen Architekten Barozzi Veiga, die auch den Lausanner Museums-Radiator und das gezackte Zürcher Tanzhaus gestaltet haben.) Die Schau mäandriert durch die Sammlungspräsentation und führt mit gekonnter Blickregie durch die zuweilen engen Räume. Manchmal stossen die Besucher*innen frontal auf die Räume, manchmal ist es eine Irritation im Augenwinkel, die die Aufmerksamkeit auf Ursula Pallas Arbeiten zieht.

Die raumfassendste der Arbeiten macht den Auftakt: Es ist eine an fast unsichtbaren Fischerdrähten gehängte Fläche aus Hunderten von kleinen Gewichten, die sich wölbt und senkt. Aus der Ferne wirkt sie sanft und geschmeidig. Aus der Nähe allerdings zeigt sich, dass die vielen kleinen Teile, die da hängen, dreizackige Angelhaken sind. Sie sind kaum für Schweizer Fische gemacht. Die riesigen Widerhaken wirken gefährlich, beängstigend und doch wunderschön. Schon wieder ist die Welt unheimlich und die Besucherin ertappt sich dabei, dem Schrecken einen ästhetischen Wert zuzuschreiben.

 

Ursula Pallas Arbeiten «Kleiner Wald» (links, 2022) und «The Horse» (rechts, 2013) (Ausstellungsansicht © Bündner Kunstmuseum Chur)
Das Kunst(Zeug)Haus Rapperswil-Jona zeigt ab dem 22. Mai 2022 die Ausstellung «Ursula Palla. Like a Garden». Im Bild: «Empty Garden», 2019, Bronze, patiniert, Videoprojektion, 12 Minuten (Foto: Ursula Palla)

Trotz des Einsatzes verschiedenster Medien verbindet eine Schlichtheit der Mittel die verschiedenen Arbeiten: nur das Nötigste ist gezeigt, die Bewegungen sind verhalten, die Zeit fliesst langsam vor sich hin, vor allem in der Videoinstallation der schmelzenden Schneemänner. Die Schritte eines Pferdes auf einem Laufband in einer Videoarbeit mit Ton (die meisten bleiben ohne) hinterlegen die Räume mit einem konstant getakteten Sound.

Nicht nur der souveräne Umgang mit der Technik beeindruckt, sondern auch das Insistieren auf einer Reduktion. Es ist eine Suche nach dem Kern der Dinge, die sich in einer unauffälligen, aber wirksamen Präzision niederschlägt. Ob es überhaupt noch etwas gibt, das wir «Natur» nennen können?

Künstlich ist hier alles, aber immer ausgehend von einer von der Natur inspirierten Poesie, die weitergesponnen und verfremdet wird: in einer Wandzeichnung aus Kohlestaub, in feinen Gewächsen aus patinierter Bronze. Die feinen Skulpturen sind mitsamt den Wurzeln des edlen Unkrauts geformt. Sie stehen still im Raum – oder doch nicht? Relief und Schattenspiel überlagern sich: Langsam bewegt sich im Hintergrund ein Grashalm, projiziert aus einem Videobeamer, während die im Raum verteilten Bronzeskulpturen fragil und reglos stehen bleiben.

 

Ursula Palla, «Cut-Blackthorn», die Wurzel eines Schwarzdornstrauches in Bronze gegossen, 2021, 32 x 64 x 55 Zentimeter (Foto: Ursula Palla)
Ursula Palla, «Roots 3», Wilde Feuerlilien, 2021, Bronze (Foto: Ursula Palla)
Wolken im Kirchenraum

Immer wieder spielen der Wind und das Wetter eine Rolle in den Arbeiten von Ursula Palla. Im Kunstmuseum Chur auch im Gegenüber mit einem beleuchteten Alpenpanorama von Giovanni Giacometti, das in diese Werkschau integriert ist. Handwerk und Illusion greifen ineinander, Natur und Technik sind ohnehin längst verschmolzen.

In der Johanneskirche am Zürcher Limmatplatz greift Pallas künstlerische Arbeit auch in einen sakralen Raum ein und verändert ihn, mittels einer Videoprojektion löst sich die hintere Wand des Kirchenraums in einen imaginierten Himmel auf. Die Wolkenbilder sind gleichzeitig künstlich hergestellte Natur und Kunst, die Natur imitiert. Ist das alles Schall und Rauch, oder sind es doch Aufnahmen aus der sogenannten Natur? Die Herkunft der Wolkenfiguren bleibt oftmals in der Schwebe, doch ab und zu ist die Slow-Motion-Sequenz einer Explosion erkennbar. Gerade in dem Moment, in dem die Illusion einer ungestörten Natur sich einnisten wollte.

Dass Kunst nicht nur im Museum, sondern auch in einem Kirchenraum ihre Wirkung entfalten kann, ist nicht nur hinsichtlich der Orte der Kunst interessant. Eine offene Kirche, als welche sich der Raum am Limmatplatz versteht, ist ein naheliegendes Gefäss für künstlerische Interventionen ausserhalb traditioneller Museen. Es lohnt sich also in mehrfacher Hinsicht, hier vorbeizukommen.

 

In der Zürcher Johanneskirche ist noch bis zum 1. Juli 2022 die Videoinstallation »und nichts als dies« von Ursula Palla zu sehen. (Filmstill © Johanneskirche Zürich)
Umweltdenken im Umbruch

Umweltthemen haben seit der Jahrtausendwende nicht nur in den Medien, sondern auch in der Kunst an Präsenz gewonnen: Kaum eine Zeitung und kaum ein Ausstellungszyklus, die sich nicht der Ökologie und dem Verhältnis der Menschheit zu ihren Lebensgrundlagen widmen. Das Kunsthaus Zürich zeigte kürzlich die Sonderschau «Earthbeats. Naturbild im Wandel», und im Vitra Design Museum ist derzeit «Plastik. Die Welt neu denken» zu sehen. Die Aufzählung liesse sich um viele weitere Ausstellungen erweitern.

Wenn es noch nicht der Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen war, der mit seinen Aufsätzen das Wort Anthropozän erfolgreich lancierte, dann waren es die Generation Greta und die Klimastreiks, die die Fragen nach Ressourcen und Klima ins öffentliche Bewusstsein katapultierten. Ursula Pallas Arbeiten kommen hier zur rechten Zeit. In dieser hybriden Welt, in der die Erdkruste nicht mehr nur aus Sand und Steinen, sondern aus Kunststoffaggregaten, Technofossilien und Mikroplastik besteht, brauchen sie keine langen Erklärungen mehr.

Oft bleibt es unklar, ob die Wolkenbilder im Kirchenraum am Zürcher Limmatplatz nun eigens für die Filmaufnahme bewegte Rauchschwaden oder in der weit entfernten Erdatmosphäre entstandene Schleier sind. Aber ist es wichtig, dies unterscheiden zu können? Wichtig scheint vor allem zu verstehen, dass solche Unterschiede je länger, je weniger gültig sein werden.

 

 

Sabine von Fischer ist Architektin und Journalistin. Nach einigen Jahren in der Praxis forschte und lehrte sie zu Architektur, Akustik und Klimastandards im In- und Ausland. Von 2019 bis 2022 betreute sie im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung die Bereiche Architektur und Design. Am 11. Mai 2022 spricht sie im Rahmen der Architekturwoche Basel mit Peter Zumthor über seine neueren Bauprojekte. 
 
 
 
«Ursula Palla. Nowhereland» zeigt das Bündner Kunstmuseum (Bahnhofstrasse 35, 7000 Chur) noch bis zum 29. Mai 2022.
 
Die Schau «Ursula Palla. Like a Garden» im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil-Jona (Schönbodenstrasse 1, 8640 Rapperswil-Jona) wird am 22. Mai dieses Jahres eröffnet und läuft bis zum 31. Juli 2022. 
 
Das Bündner Kunstmuseum Chur und das Kunst(Zeug)Haus haben gemeinsam einen Katalog zu den beiden Ausstellungen herausgegeben. 
 
«und nichts als dies», eine Videoinstallation von Ursula Palla, wird im Rahmen der Kunstreihe in der Johanneskirche Zürich (beim Limmatplatz) noch bis zum 1. Juli 2022 gezeigt. 
 
Die Galerie sam scherrer contemporary (Kleinstrasse 16, 8008 Zürich) präsentiert Arbeiten von Ursula Palla im Zuge der Gruppenausstellung «Salon de Printemps» vom 23. April bis zum 7. Mai 2022.

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