Das Normenkorsett – Stütze oder Einengung?

Elias Baumgarten
27. februari 2023
Der Architekt und Jurist Oliver Streiff, BSA-Generalsekretär Caspar Schärer, der Deutschschweizer BSA-Vizepräsident Andreas Sonderegger sowie die Landschaftsarchitektin und Geologin Monika Schenk diskutierten am 2. Februar im Forum Architektur Winterthur über Normen und rechtliche Vorgaben im Bauwesen. (Foto: Nadia Bendinelli)

Kaum etwas beschäftigt Architektinnen und Architekten tagtäglich so sehr wie Normen und gesetzliche Vorgaben. Oft werden sie als einengend wahrgenommen, als Verhinderer besserer, nachhaltigerer, einfacherer, aber auch schlicht ästhetischerer Lösungen. Zuweilen treiben sie gar seltsam Blüten, wenn etwa Parkplätze zu bauen sind, für die keine Nachfrage besteht. Doch Normen sind gut gemeint: Sie sorgen für Sicherheit. Sie sollen verhindern, dass Menschen Treppen hinabstürzen, über Stufen stolpern, in Gewässern ertrinken, vom Lärm krank werden oder im Brandfall keine Chance zur Flucht haben. Auch können sie eine wertvolle Stütze sein, wie die SIA 152, die Ordnung für Architekturwettbewerbe. Ein striktes Regelwerk schützt auch uns Architekturschaffende – vor Ausbeutung, vor Scharlatanen und Opportunisten und manchmal wohl auch vor unserer eigenen Unbedarftheit. 

Am 2. Februar wurde im Forum Architektur Winterthur ausführlich über das Für und Wider von Normen und gesetzlichen Regelungen diskutiert. Zu Gast waren Oliver Streiff, ein studierter Architekt und Jurist, BSA-Generalsekretär und Publizist Caspar Schärer, Andreas Sonderegger, Deutschschweizer BSA-Vizepräsident und Mitbegründer des Büros pool Architekten, sowie die Landschaftsarchitektin und Geologin Monika Schenk vom Büro Hager Partner.

Oliver Streiff hat als Architekt gearbeitet, heute ist er jedoch als Jurist tätig. (Foto: Nadia Bendinelli)
Gut gemeint ist noch nicht gut gemacht

Doch was sind Normen überhaupt? Normen, so erklärte Oliver Streiff in seinem Inputreferat, definieren eine Sollensordnung. Sie drücken also aus, wie eine Gesellschaft, eine Stadt oder ein Gebäude seien soll. Schauen wir genauer hin, können wir grob drei Kategorien unterscheiden: Zunächst gibt es moralische Normen, die sich über lange Zeiträume entwickeln und allgemeiner Konsens sind. Das betrifft etwa den Umgang unserer Gesellschaft mit Risiko oder Verhaltensregeln im Alltag.

Rechtliche Normen indes werden hierzulande in einem parlamentarischen Prozess ausgearbeitet und sind bindend. Ein Beispiel aus dem Bauwesen sind die Abstandsregeln. Die Ausarbeitung und Anpassung solcher Regelungen ist oft langwierig, kann aber bei entsprechend starkem politischen Willen auch sehr schnell vonstattengehen, wie das Energiegesetz beispielhaft zeigt. 

Am häufigsten begegnen uns in der Architektur jedoch technische Normen. Sie werden von Expertinnen und Experten ausgearbeitet – zum Beispiel vom SIA oder im Verkehrsbereich vom VSS. Sie sind nicht mit dem Recht identisch, können aber in der Praxis eine ähnliche Wirkungsmacht erlangen. Anders als rechtliche Normen haben sie nur eine schwache demokratische Legitimation, obschon etwa der SIA demokratische Elemente wie Vernehmlassung, Anhörung und Einsprache installiert hat. Technische Normen könnte man also als Konventionen bezeichnen. Strenggenommen müssen sie nicht eingehalten werden, doch die Missachtung kann üble Folgen haben, wenn Schäden auftreten oder Menschen verletzt werden. Technische Normen einzuhalten, schafft eine rechtliche Absicherung und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Versicherer tatsächlich für den Schaden aufkommen, wenn einmal etwas Schlimmes passieren sollte. 

Schliesslich können technische Normen in einem politischen Prozess zum Gesetz werden. Aktuell geschieht das beispielsweise beim Lärmschutz. Caspar Schärer und Andreas Sonderegger, die gerade an diesem Prozess beteiligt sind und versuchen, im Sinne der Architektenschaft Einfluss zu nehmen, berichteten kurz über dessen Fortgang. Nach einer Motion des Nationalrats Beat Flach wurde das Bundesamt für Umwelt (BAFU) mit der Erarbeitung eines Gesetzesvorschlags beauftragt. Inzwischen liege eine erste Fassung vor, so Sonderegger, die aber noch nicht ganz zufriedenstellend sei. 

Foto: Nadia Bendinelli
In unser aller Interesse?

Technische Normen unterliegen also leider meist keiner übergeordneten Güterabwägung. Zuweilen kommt es zu Zielkonflikten zwischen dem für die Gemeinschaft Sinnvollen und den Erwägungen der Experten. Ein gutes Beispiel sind hier die Verkehrsnormen des VSS, die von Strassen-​ und Verkehrsfachleuten erarbeitet werden, wie Monika Schenk im Forum Architektur Winterthur erklärte. Neu müssen zum Beispiel Parkplätze grösser ausfallen, und sogar eine Verbreiterung der Fahrbahnen wurde schon diskutiert. Das mag sinnvoll sein, um dem Trend zu immer noch grösseren und schweren Autos Rechnung zu tragen – SUV sind in der Schweiz so beliebt wie nie zuvor. Doch solche Massnahmen, die über die Verkehrssicherheit gerechtfertigt werden, gehen zulasten des Langsamverkehrs und des öffentlichen Raumes, laufen vor allem aber den klimapolitischen Zielen zuwider. Richtig wäre im Sinne des Umweltschutzes, den Autoverkehr einzuschränken und nicht zu fördern. 

Andreas Sonderegger monierte in diesem Zusammenhang, Normen würden ein einfaches, klimagerechtes Bauen erschweren oder mitunter sogar verhindern. Um die Klimaziele zu erreichen, brauche es eine Verschlankung der Normen. Tatsächlich jedoch, so warnte Caspar Schärer, führe der Wunsch, zukunftsfähig und umweltfreundlich zu bauen, aktuell zu noch mehr Regulation. Vielleicht sollten künftighin lieber ganzheitliche Ziele definiert werden, statt beispielsweise strenge Grenzwerte festzuschreiben.

Foto: Nadia Bendinelli
E wie «einfach» – Bayern als Vorbild für die Schweiz?

Auch in Deutschland regeln Hunderte Normen, wie Architektinnen und Architekten zu bauen haben. Und auch in unserem Nachbarland gilt: Wer Normen bei der Planung nicht beachtet, macht sich verwundbar. Der bayerische Architekturprofessor Florian Nagler, hierzulande vielen etwa für sein Forschungshaus in Bad Aibling bekannt, möchte die Normen im Sinne einer nachhaltigeren, einfacheren Bauweise reduzieren. Und nun will die Bundesarchitektenkammer (BAK) einen neuen Gebäudetyp schaffen, der mit weniger Normen auskommt. Heissen soll er «E» – wie «einfach» oder «experimentell». Umweltschutz, Standsicherheit und Brandschutz werden dabei nicht infrage gestellt, wohl aber dürfen Architekturschaffende und Bauherrschaften DIN-Normen, die für den Komfort verantwortlich sind, beiseitelegen. Das deutsche Bundesbauministerium begrüsst den Vorschlag, und in Bayern soll der neue Gebäudetyp nun ausprobiert werden. 

Oliver Streiff nannte den Gebäudetype E eine Revolution aus Bayern. Eingedenk der Kritik von Caspar Schärer und Andreas Sonderegger könnte die bayerische Idee tatsächlich auch etwas für die Schweiz sein – als Abkürzung, bis die Anpassung des Baugesetzes an die Herausforderungen der Klimakrise, der Innenentwicklung und der Inklusion geschafft ist.

Das Publikum beteiligte sich rege an der Debatte. Die Gäste richteten zahlreiche Fragen an die Podiumsteilnehmer. (Foto: Nadia Bendinelli)
Foto: Nadia Bendinelli
Die Macht des Faktischen – oder: Eine Aufforderung zum intelligenten Ungehorsam

Doch welche Möglichkeiten der Einflussnahme bestehen? Dass wir mehr Architektinnen und Architekten brauchen, die sich in Kommissionen und überhaupt in der Politik engagieren, mag ein Gemeinplatz sein, ist darum aber nicht weniger wahr. Hinsichtlich der politischen Prozesse warnte Caspar Schärer vor einer starken Lagerbildung und versteiften Fronten. Es gebe heute bei jedem Thema eine politische Pressure-Group, die ihre Forderungen für alternativlos und nicht verhandelbar halte. Was wir aber bräuchten, seien fruchtbare Debatten und weitsichtige (Kompromiss)Lösungen.

Darüber hinaus bestehen weitere Gestaltungsmöglichkeiten: Oliver Streiff lieferte einen interessanten Denkanstoss, als er von der normativen Kraft des Bauens sprach. Demnach haben hervorragende Lösungen, die als mutige Ausnahmen mit der Bauherrschaft und den beteiligten Unternehmern entwickelt werden, durchaus das Potenzial, dereinst zur Norm zu werden. Hemmende oder unnötige Normen lassen sich durch gut gemachte Abweichungen «überschreiben». 

Sehr wichtig scheint – besonders im Hinblick auf den Klimaschutz – ausserdem, eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über unsere Luxusbedürfnisse und Komfortansprüche anzustossen. Denn ein Wertewandel wird sich nicht von selbst einstellen, und von der Politik darf man wohl leider nicht erwarten, solch unpopuläre Themen bereitwillig anzugehen. Beispielhafte Projekte können hierbei ein wichtiger Beitrag sein – so wie der Umbau «Wolfen» (2021) in Sternenberg im Zürcher Oberland vom Winterthurer Büro Marazzi Reinhardt. Bei diesem wurden nur minimale Eingriffe an dem historischen Ensemble vorgenommen. Dafür ist die Bauherrschaft bereit, während der Wintermonate nur wenige Räume ihrer Behausung zu bewohnen.

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