Menschliche Habitate im Zeitalter von Mobilität und Migration

Susanna Koeberle
19. augustus 2022
Der runde Pavillon von Frida Escobedo erinnert an die archäologische Stätte Stonehenge. (Foto: Simon Lamunière)

Schon Anfang des Jahrtausends, während seiner Zeit als Kurator der Art Unlimited (Art Basel), stellte Simon Lamunière eine (neue) Annäherung zwischen Kunst, Architektur und Design fest. Egal ob die damals um sich greifenden grossformatigen Arbeiten nun von Künstler*innen oder Architekt*innen entworfen wurden: Viele davon entzogen sich einer eindeutigen Zuweisung und sprengten die Grenzen der Disziplinen. Das Räumliche wurde zu einem verbindenden Element kreativer Recherche. Zur gleichen Zeit nahmen auch die Phänomene Migration und Mobilität zu, was den Themen Wohnen und Zuhausesein eine erhöhte Aufmerksamkeit bescherte. Während der erwähnte transdisziplinäre und künstlerische Ansatz zu experimentellen Spielereien Anlass gab, verschärfte sich auf einer realpolitischen Ebene die Krise des Wohnens; das Problem nahm eine geopolitische Dimension an. Genau diese Gegensätze interessieren Lamunière. Ursprünglich zum Künstler ausgebildet, verlagerten sich seine Aktivitäten zusehends ins Kuratorische. Sein neustes Projekt ist die Freiluftausstellung «Open House», die bis Ende August in einem Park bei Genf 35 Projekte rund um das Thema Wohnen zeigt.

Die Frage des Habitats beinhaltet soziale, politische, ethische wie auch ästhetische Fragestellungen, aber auch konkrete Lösungsansätze – umfasst also eine Spanne zwischen Idee und Realität. Aufgebrochen hat das eng gefasste Verständnis von Architektur etwa der Wiener Theoretiker, Architekt, Designer und Ausstellungsmacher Hans Hollein (1934–2014). Sein berühmter Aufsatz «Alles ist Architektur» (1967) ist nicht zufällig auch im Katalog zur Ausstellung zu finden. Hollein plädiert in seinem Text, den man durchaus als Manifest lesen kann, für einen erweiterten Architekturbegriff. Und dafür, dass Architek*innen ihre Disziplin erweitern: «Architekten müssen aufhören, nur in Bauwerken zu denken.» Für den Pritzker-Preisträger war Architektur Kommunikation und das schliesst eben nicht nur materielle Aspekte ein.

Der «Modulora Prototype» von Rahbaran Hürzeler lässt viele Möglichkeiten zu. (Foto: Rahbaran Hürzeler)

Mit «Open House» wollte Lamunière genau solchen gedankenerweiternden Projekten und Räumen eine Plattform geben und sie auch erlebbar machen. Die 35 Arbeiten – Pavillons, Prototypen, Raumobjekte oder Skulpturen – im Parc Lullin bieten Gelegenheit, über unsere Beziehung zum Lebensraum nachzudenken. Allerdings spielen die Sinne dabei eine zentrale Rolle, denn die meisten Objekte dürfen betreten werden. Dass bei diesem Projekt nicht nur ästhetische Bedürfnisse befriedigt, sondern auch politische und humanitäre Themen adressiert werden, macht die Ausstellung auch zu einem philosophischen Kommentar zur Conditio humana. «Open House» wird gleichsam zur Bühne für ein Gedankenexperiment, das die existenzielle Dimension des Themas Habitat vorführt.

Eine historische Position von Ken Isaac: das «Fun House» von 1969 (Foto: Annik Wetter)

Die Hälfte der Projekte entstand eigens für die Ausstellung, sieben in Zusammenarbeit mit Universitäten (wie EPFL oder HEAD) oder humanitären Organisationen (wie IKRK oder UNHCR). Beim Eingang zur Ausstellung (ein Teil davon ist öffentlich zugänglich, für den Eintritt in gewisse Bauten muss man ein Ticket lösen) begegnen Besucher*innen ein paar «Teasern», wie Lamunière sagt, die verschiedene Aspekte des Themas ansprechen. Darunter befindet sich ein historisches Projekt des Genfer Architekten Marcel Lachat aus den 1970er-Jahren. Die vergebliche Suche nach einer grösseren Wohnung bei der Geburt seiner Tochter gab Anlass zum Bau des «Bulle Pirate», einer an die Fassade angehängten eiförmigen Struktur aus Polyester, die den fehlenden Platz wettmachen sollte. Der architektonische «Parasit» musste kurz danach entfernet werden, doch die Botschaft kam an und der jungen Familie wurde kurz darauf eine grössere Wohnung angeboten. Nicht immer endet Wohnungsnot – oder der Mangel an Wohnraum überhaupt – mit einem solchen Happy End.

Wenn Menschen ihre Heimat aufgrund von Kriegen oder Hungersnöten unfreiwillig verlassen müssen, dann sind sie auf die Hilfe anderer angewiesen. Vielleicht springen zunächst Verwandte ein, doch wenn auch das nicht möglich ist, kommen andere Hilfeleistungen zum Einsatz. «Open House» zeigt ein zusammengefaltetes Zelt des Hilfswerks IKRK sowie das Projekt «Better Shelter», das in Zusammenarbeit mit dem UNHCR und der Ikea Foundation entstand. Die RHU (Relief Housing Unit) wird als Kit geliefert und bietet 17,5 Quadratmeter Platz, das heisst 3,5 Quadratmeter pro Person. Diese räumlichen Dimensionen physisch zu erleben, vermittelt eine Vorstellung davon, was es bedeutet, sich in einer solchen Struktur heimisch machen zu müssen – und das meist auf längere Zeit. Textile Behausungen gehören zu den Urformen des menschlichen Wohnens, gewisse Nomadenvölker leben bis heute so. Hierzulande assoziieren wir das Zelten eher mit Ferien und einem bewusst gewählten Verzicht auf Annehmlichkeiten.

Zusammengefaltetes IKRK-Zelt für eine Familie (Foto: Julien Gremaud)

Stichwort Reduktion: Was braucht es, damit wir von einer Behausung sprechen können? Zwei Projekte fallen diesbezüglich besonders auf, weil sie das Thema mit einer gewissen Radikalität angehen. Es sind zugleich die poetischsten Beiträge der Ausstellung. Monica Ursina Jägers Installation trägt den Namen «Homeland Fictions (a Constellation)» und spannt schon in der sprachlichen Gestalt den Bogen zwischen irdischer und planetarischer Dimension. Die riesige Buche mitten im Park wird in Jägers Kunstwerk zur Hauptprotagonistin, zumal die Künstlerin damit auch auf die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung der Buche verweist. Um das prächtige Exemplar spannt sie drei an Atomstrukturen oder Sternenkonstellationen erinnernde Holzringe, die das Gewächs fast schützend umfassen. Der Baum und das Atom werden zum Sinnbild für das Universum und für die Beziehung zwischen Natur und Kultur. In ihrer Arbeit fallen Mikro- und Makrokosmos gleichsam zusammen. Dass der Baum dabei selber als eine Art Architektur erscheint, ist auf den minimalen Eingriff in das Bestehende zurückzuführen. 

Auch die brasilianische Architektin Carla Juaçaba kommt mit einem Minimum an Materie aus. Ihre Arbeit «Fil d’air» (Luftfaden) besteht aus einer Reihe resistenter Seile, welche die Landschaft über eine Länge von rund dreissig Metern durchqueren und dann im Wald verschwinden. Aufgrund der Neigung des Bodens entsteht die Illusion einer räumlichen Zeichnung. Die Seile sind mit kleinen Metallelementen bestückt, das einzig Feste an dieser Installation. Man könnte sich vorstellen, über diese dünnen Träger Tücher zu spannen, um Schutz zu finden. Die Intervention reflektiert die Arbeitsweise der Architektin, die für ihre Bauten und Installationen stets vom Minimum und vom Vorhandenen ausgeht.

Aufs Minimum reduziert: «Fil d’air» von Carla Juaçaba (Foto: Julien Gremaud)

Was man mit wenig Material im Kollektiv erschaffen kann, zeigt der Pavillon «Empower House» der indischen Architektin Anupama Kundoo. Das Projekt entspringt einem Workshop mit den Studierenden der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW. Der multifunktionale Bau macht deutlich, wie das Bauen im Kontext prekärer klimatischer, sozialer und urbaner Situationen aussehen kann. Das origami-artige Dach betont die mobile Verwendung des Leichtbaus. Das Bauwerk führt auch paradigmatisch vor, wie fliessend die Grenzen zwischen Zweckbau und Objekt mit künstlerischem Ausdruck sein können. 

«Open House» zeigt zugleich auch, dass es diese Grenzen gibt. Die Ansprüche und das Aussehen der Projekte könnten nicht unterschiedlicher sein. Was sie vereint, ist ihre Offenheit. Sie erinnern uns daran, dass Zuhausesein mehr als ein Dach über dem Kopf bedeutet.

«Empower House» von Anupama Kundoo (Foto: Julien Gremaud)

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