Vom Kampf gegen ein befremdliches Bauprojekt

Elias Baumgarten
21. april 2022
Dieses alte Foto zeigt die ikonische Kurvenkombination beim Tschuggen an Flüelastrasse in den 1910er-Jahren. Zukünftig soll ein breiter Bogen zwischen den historischen Bauten hindurchschneiden und die beiden Kehren ersetzen. (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

 

Tief eingeschnittene Schluchten, schroffe Abhänge, Felsstürze, Lawinen – die majestätischen Gebirgslandschaften der Schweiz stellen ihre Bewohner*innen seit jeher vor enorme Herausforderungen. Wege und Strassen über die hohen Gebirgspässe anzulegen und zu unterhalten, ist ein schwieriges und zuweilen gefährliches Unterfangen. In der Schweiz entstanden beeindruckende Passstrassen, die zu den schönsten Europas zählen. Sie sind Meisterwerke der Ingenieurskunst. Und so sind sie bis heute von einer geradezu magnetischen Anziehungskraft für staunende Besucher*innen aus dem In- und Ausland. Diese Anlagen sind wichtige Bausteine nationaler Identität. Sie prägend das Bild und das Selbstverständnis der Schweiz.

In Graubünden wurde im 19. Jahrhundert ein dichtes Netz an «Kunststrassen» aufgebaut, die mit Frachtwägen und Postkutschen befahren werden konnten. Anders als neuere Passstrassen, die, da sie für ungleich stärkere Fahrzeuge entworfen wurden, oft steile Rampen und nur wenige Serpentinen aufweisen, zeichnen sie sich durch sanfte, gleichmässige Steigungen aus. Mit grossem konstruktiven wie landschaftsgestalterischen Sachverstand und Geschick wurden sie von den damaligen Ingenieuren ins Gelände eingepasst. Diese Bauwerke prägen die sensible Gebirgslandschaft, ohne aber als störend empfunden zu werden. Wer die Strecken schon einmal bewusst befahren hat, weiss, dass die Strassen die Bergwelt in besonderer Weise erlebbar machen. Viele von ihnen sind folgerichtig im Inventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS) als Baudenkmäler von nationaler Bedeutung erfasst. 

Eine dieser ikonischen Anlagen ist die Flüelapassstrasse, die Davos mit Susch im Unterengadin verbindet. Zu den prägendsten Passagen der Strecke, die in den Jahren 1866 und 1867 angelegt wurde, gehört die S-förmige Kurvenkombination beim Tschuggen. Die beiden weiten Kehren überwinden elegant eine Stufe am oberen Abschluss einer Geländekammer und sind weithin sichtbar. Wie selbstverständlich schlängelt sich der Strassenverlauf an einer historischen Gebäudegruppe vorüber, zu der die kantonal geschützte Kapelle Maria zum Schnee (1870) und das Gasthaus zum Tschuggen gehören. Doch diese malerische Situation soll sich bald radikal verändern: Der Kanton Graubünden plant eine aufwendige Begradigung. Eine bogenförmige Rampe soll zwischen den Bauten hindurchschneiden. Auch würde die Strasse bei der Gelegenheit verbreitert. Zudem ist vorgesehen, einen grossen Parkplatz zu planieren, der dann geradezu am Hang thronen würde und schon von Weitem zu sehen wäre.

 

Das Flüela-Hospiz in den 1910er-Jahren. Im Hintergrund ist das Schwarzhorn zu erkennen. Die kunstvoll ins Gelände eingebetteten Passstrassen der Schweiz sind ein wichtiger Bestandteil nationaler Identität. Viele Strecken sind im Inventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS) verzeichnet. Die Flüelastrasse ist dabei mit der zweithöchsten Schutzkategorie bewertet. (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Das Vorhaben lässt mit dem Kopf schütteln: Grosse Mengen an Fels müssten abgetragen werden, zugleich wäre eine massive Geländeaufschüttung nötig. Die neue Strasse würde bis zu sieben Meter über dem Terrain verlaufen. Die schöne Kapelle, die heute sechs Meter oberhalb der Strasse steht, würde sich nach dem Eingriff anderthalb Meter unterhalb befinden. Die Wirkung der historischen Bauten, die heute mit der Flüelastrasse und dem Landschaftsraum rundherum eine harmonische Einheit bilden, wäre zerstört.

Dass in einer Zeit, da das Bewusstsein für den Umwelt- und Landschaftsschutz eigentlich steigt, ein derart grobes Bauwerk ins Hochgebirge geflanscht werden soll, verwundert. Doch es gibt energischen Widerstand: Der Bündner Heimatschutz und die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz haben das Vorhaben heftig kritisiert und Einsprache erhoben. Die beiden Organisationen sehen das Projekt als überdimensioniert und unzeitgemäss an. Weil es den IVS-Schutzzielen zuwiderläuft, halten sie das Vorhaben für nicht bewilligungsfähig. Ludmila Seifert, Kunsthistorikerin und Geschäftsleiterin des Bündner Heimatschutzes, hat die ablehnende Haltung ihrer Mitstreiter*innen in einem Gastkommentar im Bündner Tagblatt formuliert.

Doch warum überhaupt den Streckenverlauf mit grösstem Aufwand ändern? Das Bündner Tiefbauamt argumentiert mit der Sicherheit: Durch die engen Kurven, das Gelände und die Gebäude sei der 2,6 Kilometer lange Streckenabschnitt unübersichtlich. Dies führe zu brenzligen Verkehrssituationen und bisweilen sogar zu Unfällen. Wirklich? Ist es nicht vielmehr so, dass während viele Menschen aus Genuss die Schweizer Bergstrassen befahren, so mancher Töfffahrer und Sportwagenlenker diese als Rennstrecken auffasst? Rührt die hohe Unfallgefahr auf den Pässen nicht zumindest zu einem grossen Teil von unangepasster Fahrweise, mangelnder Rücksichtnahme und überhöhter Geschwindigkeit her? Wie kann es der richtige Weg sein, das Rasen als Freizeitvergnügen noch zu befördern, das neben der Gefährdung anderer auch zu einer kolossalen Lärm- und Schadstoffbelastung inmitten einer hochsensiblen Tier- und Pflanzenwelt führt? 

Der neue Abschnitt der Flüelastrasse würde eine identitätsstiftende Situation zerstören und wäre zugleich ökologisch höchst fragwürdig. Durch ihn würde ein besonders wertvolles Stück Schweiz ruiniert. Der Kanton Graubünden könnte sein üppiges Budget für den Strassenbau – CHF 200 Millionen für den Zeitraum bis 2024 – gewiss sinnvoller einsetzen.

 

Das Panorama am Flüelapass kurz nach der Fertigstellung der «Kunststrasse» (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

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