Architektur für eine geschundene Welt

Leonie Charlotte Wagner
22. outubro 2020
Lisbeth Sachs bei der Arbeit für die «Saffa 1958» (Foto: Alexander Barbey, Zürcher Hochschule der Künste, Archiv)

«No Documents – No History» [1] war das Motto, das die amerikanische Historikerin und Feministin Mary Ritter Beard für das World Center for Women’s Archives wählte, das sie 1935 gemeinsam mit Rosika Schwimmer in New York gründete. Im Vergleich zu anderen Bemühungen, architektonische Werke von Frauen zu archivieren, kam Beards und Schimmers Aktionismus ungeheuer früh. Sie waren Vorreiterinnen. 50 Jahre später, 1985, wurde das International Archive for Women Architecture (IAWA) an der Virginia Tech University gegründet. Und erst jetzt, im Jahr 2020, scheint das Enthüllen und Aufarbeiten von Werken der ersten Architektinnen endlich auch im Schweizer Architekturdiskurs mehr Fuss zu fassen. Bis Ende Juli dieses Jahres war im ZAZ Zentrum Architektur Zürich die Ausstellung «Frau Architekt» zu sehen, der Verein proSaffa 1958-Pavillon setzt sich für die Erhaltung eines kleinen Bauwerks der Architektin Berta Rahm (1910–1998) ein und jüngst hat der gta Verlag die Monografie «Lisbeth Sachs. Architektin. Forscherin. Publizistin» veröffentlicht.

Als Frau am Bau in der Unterzahl – am 14. Dezember 1950 wurde im Beisein von Lisbeth Sachs der Grundstein für das neue Kurtheater von Baden gelegt. (Foto: gta Archiv, ETH Zürich)
Eine frühe Protagonistin der Schweizer Architektur

Als Architekturstudentin sammelte Lisbeth Sachs (1914–2002) Erfahrungen in Schreinereien und absolvierte ein Praktikum bei Alvar Aalto, für den sie nach Aino Alto als erste Frau arbeitete. Sie war fasziniert von seinem Umgang mit organischen Materialien und geschwungenen Formen, die für sie «Ausdruck von Freiheit, Tanz und Überraschung» waren, kontrastiert durch den «Halt» des rechten Winkels. [2]

1939 diplomierte Sachs bei Otto Rudolf Salvisberg an der ETH Zürich. Zu ihren Kommilition*innen zählten fünf Frauen – und 55 Männer. Im selben Jahr gewann sie als 25-Jährige prompt den Wettbewerb für das Kurtheater Baden und eröffnete – nach Lux Guyer (1924) als zweite Schweizer Architektin überhaupt – ihr eigenes Büro. Der wegen des Zweiten Weltkrieges schliesslich erst 1952 realisierte Bau war ihr Erstlingswerk, dessen Umsetzung alles andere als konfliktfrei ablief: Da man ihr als Frau die Ausführung des Gebäudes nicht zutraute, stellte man ihr den zweitplatzierten Architekten Otto Dorer zur Seite, mit dem sie fortan weiterarbeiten musste.

Zu ihren Arbeiten zählen insgesamt mehr als 100 Projekte, die oft ein experimenteller, utopischer und nicht zuletzt ökologischer Charakter auszeichnet. Sachs formulierte mit ihren Architekturen eine besondere Beziehung zur Natur – ihre Projekte würden einer geschundenen Welt wieder auf die Beine helfen, formulierte der Kritiker Peter Killer einmal schön. Doch leider blieb das realisierte Œuvre der Architektin vergleichsweise schmal. Neben ihrem architektonischen Schaffen war Lisbeth Sachs auch publizistisch tätig und schrieb unter anderem für das Werk und archithese.

Eingangssituation des Kurtheaters Baden (Foto: Werner Nefflen, Historisches Museum Baden)
Im Glasfoyer des Kurtheaters Baden; die Aufnahme stammt aus dem Eröffnungsjahr 1952. (Foto: Werner Nefflen, Historisches Museum Baden)
Schwebend, leicht und organisch

Autorin Rahel Hartmann Schweizer beleuchtet in ihrer Monografie vor allem den Bau des Kurtheaters Baden. Das in diesem Jahr nach einer Instandsetzung wiedereröffnete Gebäude war Anlass der Publikation und spielt darin mit vier Kapiteln eine grosse Rolle. Weitere drei befassen sich mit der Biografie sowie Interessen und Methoden der Architektin. Den Abschluss der Publikation bildet ein Werkkatalog.

Besonders inspirierend sind die Kapitel, in denen die späteren Werke und die Haltung der Architektin beleuchtet werden. Aus heutiger Sicht erstaunlich zeitgenössisch plädiert Sachs schon 1950 im Werk für «eine neue Bezugnahme auf die Natur, eine Bezugnahme in grossem, umfassenden Sinne, in welcher das menschliche Sein und Vergehen mit eingeschlossen ist, in der Empfindung also für eine Allverwandtschaft zwischen Pflanze, Tier, Mensch und Stein, auch zwischen den Schöpfungen des Menschen und der Natur» [3]. Lisbeth Sachs sah die Architektur selbst als etwas Organisches und Prozesshaftes: «Die Architektur ist in ihrer Substanz kontinuierlich bedroht oder – positiv formuliert – einem stetigen Veränderungsprozess aussetzt.» [4] Diese der Disziplin inhärente Bewegung lässt sich unter anderem in Form von schräg gestellten, scheinbar ‹laufenden› Stützen wie beim Haus Bühler (Blauen, 1970) ablesen. Auch die Kunsthalle, welche Sachs für die «Saffa 1958» (Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit) entwarf, wirkt leicht und dynamisch: Auf drei in Aluminumblech ummantelte Betonringe wurde mittels einer schlanken Stahlkonstruktion eine hauchdünne Dachhaut gespannt. Durch Vorhänge konnten die drei Räume, deren Wände aus lose verteilten Betonelemente gebildet wurden, flexibel getrennt werden.   

Es ist ein wenig schade, dass sich ein so grosser Teil der Publikation mit dem Kurtheater Baden auseinandersetzt, da es auch andere interessante Bauten und Entwürfe – etwa das Haus Strauss (Resch, 1967) – gegeben hätte, über die man gern mehr erfahren würde.

Die Kunsthalle an der 2. Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit, die 1958 in Zürich stattfand; Lisbeth Sachs entwickelte die Gestaltung zusammen mit Werner Müller. (Foto: Erica Müller-Rieder, gta Archiv, ETH Zürich)
Haus Bühler, Blauen, 1969–1970, Ansicht von Südosten (Plan: Lisbeth Sachs, gta Archiv, ETH Zürich)
Wider die Bescheidenheit

In ihrer Einleitung schreibt Rahel Hartmann Schweizer, dass der Ausgangspunkt ihrer Publikation gewesen sei, Sprachrohr für eine Frau zu sein, die in erster Linie Reklame für andere betrieb. Lisbeth Sachs machte Bauten von Frei Otto und Alvar Aalto in der Schweiz bekannt, für die sie laut der Autorin regelrechte Öffentlichkeitsarbeit betrieb. In eigener Sache wurde sie erst 1976 aktiv, als sie – inzwischen 62 Jahre alt – eine eigene Werkschau organisierte. Es scheint auch an ihrer Auffassung der Profession Architektur gelegen zu haben, dass sie sich selten für ihre eigene Sichtbarkeit einsetzte. Sie selbst sagte, dass es «für diesen Beruf wesentlich wäre, bescheiden zu bleiben, sich als Diener gegenüber einer Aufgabe zu empfinden» [4]. Auch wenn diese Aussage edel erscheint, ist es schmerzhaft, sie aus dem Mund einer Frau zu hören, die einer patriarchalen Architektur und Gesellschaft ‹diente›, in der sie sich als Frau immer wieder behaupten musste.

Bei der Aufarbeitung der Architekturgeschichte aus weiblicher Perspektive tritt das von der Autorin angesprochene Problem häufig auf: Frauen neigen dazu (oder wurden dazu gebracht), sich gegenüber ihrer eigenen Arbeit bescheiden zu verhalten und die eigenen Werke nicht oder nur rudimentär zu archivieren. Oft auch werden ihre Arbeiten unter dem bei der Heirat angenommenen Familiennamen des Mannes geführt. Umso wichtiger also, das vorhandene Material aufzuarbeiten, zu publizieren und Sprachrohr für eine Generation von Architektinnen zu sein, die selbst zu wenig für sich sprachen.

Das Buch «Lisbeth Sachs. Architektin. Forscherin. Publizistin» ist der fünfte Band – von insgesamt 31! –  in der Reihe «Dokumente zur modernen Schweizer Architektur» des gta Verlags, der sich der Arbeit früher Schweizer Architektinnen widmet. 1983 erschien eine Publikation zu Lux Guyer (eine weitere Monografie 2009), 2003 zu Flora Steiger-Crawford, 2009 zu Trix und Robert Haussmann. Es bleibt noch einiges zu tun!


[1] Mary Ritter Beard zitierte den Historiker Numa Denis Fustel de Coulanges (1830–1889).
[2] Rahel Hartmann Schweizer, «Lisbeth Sachs. Architektin. Forscherin. Publizistin», Zürich 2020, S. 75
[3] Lisbeth Sachs zitiert in ebenda, S. 101
[4] Lisbeth Sachs zitiert in ebenda, S. 129
[5] ebenda, S. 25

Lisbeth Sachs. Architektin. Forscherin. Publizistin

Lisbeth Sachs. Architektin. Forscherin. Publizistin
Rahel Hartmann Schweizer

225 x 300 Millimeter
219 Páginas
192 Illustrations
Hardcover
ISBN 9783856764029
gta Verlag
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