Im Walfischbauch

Susanna Koeberle
9. julho 2020
Im Erdgeschoss des denkmalgeschützten Getreidelagers von Robert Maillart in Altdorf (Foto: Susanna Koeberle)

Im Erdgeschoss sind die eckigen Pilzsäulen relativ dick, aber dennoch elegant. Man merkt: Hier hat jemand das Nützliche und das Schöne auf intelligente Art miteinander verbunden. Im dritten Stock angelangt sind die formschönen Betonsäulen nicht nur deutlich schlanker, auch die Decke wölbt sich leicht: Der Raum wird gewissermassen zum Walfischbauch. Seit Ende Juni dieses Jahres bietet das eidgenössische Getreidedepot in Altdorf, 1912 vom Ingenieur Robert Maillart erbaut, ein Raumerlebnis mehr. «Volle Helle Halle» nennen die beiden Zürcher Künstler Andres Lutz und Anders Guggisberg ihre Installation, die in diesem denkmalgeschützten Industriebau zu ihrer endgültigen Form gefunden hat – doch zum Thema «endgültig» später mehr. Die raumfüllende Arbeit besteht aus 31 Skulpturen, die im Raum «parkiert» sind, wie es Andres Lutz ausdrückt. Die Wortwahl ist nicht zufällig, schliesslich haben viele Werke des Duos etwas von Vehikeln. Das Motiv des Flosses, des Schlittens oder der Arche zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk der Künstler. Es geht immer wieder um mobile Behausungen oder Behältnisse bei Lutz & Guggisberg. Das Leben lässt sich quasi als Verhältnis zwischen dem Mobilen und dem Immobilen beschreiben: eine Reise mit Zwischenstationen. 

«Tonies» nennen Lutz & Guggisberg die toniartigen Kraftfigürchen aus Ton, welche auch in Altdorf die Installation bevölkern. (Foto: Susanna Koeberle)

Und so befindet sich auch die Materia prima ihrer Arbeiten in einem stetigen Transformationsprozess – auch in Altdorf. Christoph Hürlimann, Zuger Mäzen und Geschäftsführer einer Immobilienfirma, ist schon seit längerem in der Gegend tätig und auch ein eifriger Sammler der Arbeiten von Lutz & Guggisberg. Er ist unter anderem Gründer der Stiftung Kunstdepot, die während einigen Jahren in Göschenen domiziliert war. Das ehemalige Zeughaus von Göschenen liess er zu diesem Zweck umbauen. Im Dachgeschoss bot er jungen, aufstrebenden Künstler*innen Ateliers an. Lutz & Guggisberg realisierten 2016 dort eine grössere Installation, die anlässlich der Eröffnung des Gotthard Basistunnels Teil der Gruppenausstellung «dall’altra parte» war. Diesen «Umzug» – «ein wilder situativer, etwa 35 Meter langer Tunneltatzelwurm» (so die Künstler) – kaufte Hürlimann an. Sein Wunsch war, diesen nun nach Altdorf überzusiedeln. 

Die Künstler schlugen hingegen vor, diese Installation einer neuen Form zuzuführen. So wurde das Material des «Umzugs» flugs auseinandergenommen und neu verwertet – ein unkonventioneller Schritt sowohl aus Künstler- wie auch aus Besitzersicht. Drei Monate arbeiteten Andres Lutz und Anders Guggisberg an einem Re-Arrangement des Materials und verwendeten dabei auch allerlei Objekte aus ihrer eigenen Sammlung, wobei es sich bei diesem Fundus (oder «Haufen», wie sie es nennen) um Objekte unterschiedlichen Ursprungs handelt. Teilweise hatten die Elemente schon in früheren Ausstellungen an den unterschiedlichsten Orten dieser Welt ihren Auftritt. Man könnte durchaus sagen, dass Lutz & Guggisberg die Welt auch als Bühne wahrnehmen. Nicht zufällig nennen sie ihre Installationen auch Paraden. Obwohl diese Auftritte etwas Spektakelhaftes haben, geschehen die Inszenierungen nie um ihrer selbst willen. Sie sind Zeugen eines Prozesses, einer Umformung, die kontinuierlich neue Bedeutungen erzeugt. Die Frage nach Sinn oder Unsinn wird damit obsolet, denn nichts steht still. Das ist auch im Getreidelager nicht anders.

Die «Käferparade» ist ein Beispiel der Lust der Künstler, «den Schöpfungsbericht nachzustammeln und den 300 Millionen Insektenarten noch sechs weitere hinzuzufügen». (Foto: Susanna Koeberle)

An der Eröffnung sah man Besucher*innen mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht und ein paar Blättern in der Hand zwischen den grossen und kleinen Objekten durch den Raum mäandrieren. Auf dem Papier erklären die Künstler die Genese ihrer Werke, allerlei abenteuerliche Geburtsprozesse gespickt mit viel Sprachwitz. Sie betreiben mitunter eine muntere Exegese ihrer eigenen Arbeit. Auch ihre Arbeitsweise als Duo wird reflektiert. Die 31 Texte sind Teil des Werkes, ohne jedoch dass der Installation bei Nichtkenntnis dieser sprachlichen Ebene etwas fehlen würde. Es entsteht eine Verwandtschaft zwischen Buchstabenmaterial und dem eigentlichen Material der Werke. Buchstaben stehen für die Fülle der unendlichen Möglichkeiten, welche die Welt bereit hält, sie sind gleichsam Bruchstücke, die neu kombiniert neue Formen, neue Kunstwerke ergeben. Dies obwohl ihre Anzahl beschränkt ist. So ist es auch mit dem Grundmaterial der Arbeiten von Lutz & Guggisberg: Es bleibt zwar (mehr oder weniger) gleich, aber daraus kann ein wundersames, unendliches Chaos entspringen. Die Installation «Volle Helle Halle» führt diesen spielerischen Trieb zur Kombinatorik vor. Dass dabei so unterhaltende und schöne Dinge entstehen können, ist ein Glücksfall. Man nennt das auch Kunst. Auch wenn die Arbeiten nun ihre «abschliessende, gültige Form» gefunden haben, wissen wir nie, was noch kommen wird. Am besten nach Altdorf gehen und nach dem Stand der Dinge sehen; auch wegen der Robert Maillart-Säulen.

Noch eine Parade: «Babybelugajumboschneckenjets» (Foto: Susanna Koeberle)
Das Kunstdepot Altdorf kann auf Voranmeldung besichtigt werden. Auch Gruppen sind willkommen. Interessierte melden sich bitte unter 041 728 09 09 bei Sonja Krieg.

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