Blick auf die Perspektive

Manuel Pestalozzi
10. 一月 2019
Wohin des Weges? Perspektive ist lernbar. Bild: Circle Line Art School/ Youtube

Es gibt zwei aktuelle Gründe, sich näher mit der Perspektive zu befassen. Der eine betrifft Architektur und Planung direkt: die Digitalisierung der Projektdarstellung. Da die Perspektive eine mathematisch-naturwissenschaftliche Konstruktion ist, lässt sie sich mittels der passenden Software erstellen und setzt «analoge» intellektuelle Energie für andere Aufgaben frei. Mit dem Siegeszug der BIM-Methode soll sich im Bauwesen das Arbeiten mit 3D-Darstellungen durch alle Gewerke etablieren. Dies bedingt die Sicherstellung einer allgemeinen Lesbarkeit und Verständlichkeit von Perspektiven.
 
Der zweite Grund findet sich genau dort, also beim Verständnis und der Akzeptanz dieser Darstellungsart. Das betrifft die weitere Allgemeinheit, geht über räumliche Belange hinaus und reicht bis ins Politische. Die Bedeutung der Perspektive als Kulturgut zeigt sich in unseren Tagen besonders deutlich im Vokabular, dessen man sich in unseren Breiten bei Deutungen zu den jüngeren Wanderungsbewegungen bedient. Als eine Begründung für Flucht oder Migration wird nebst Verfolgung oder kriegerischen Auseinandersetzungen immer wieder die «fehlende Perspektive» von Zuwanderern an ihren Herkunftsorten angeführt. Es gibt gute Gründe zur Annahme, dass manchen von ihnen der Wunsch nach einer Perspektive (und damit der Anspruch auf sie) ungefragt angedichtet wird. Gerade heute lohnt es sich, die «Legitimität» der Perspektive und auch ihren Sinn zu hinterfragen.

Sebastiano Serlios Bühnenbilder: tragisch, komisch, satyrisch. Bild: Museo Teatrale alla Scala

Tochter der Vernunft
Die Perspektive stammt aus der Renaissance. Sie bezeichnet eine Technik, mit der man räumliche Tiefe auf einer ebenen Fläche darstellt. Und sie zelebriert das Verständnis der grundsätzlichen Funktionsweise des Auges, welches Lichtstrahlen in der Linse bündelt und an Rezeptoren weiter projiziert. Zwar sind sowohl die Erde als auch das Auge bewegliche Kugeln, doch die mit geometrischer Präzision wiedergegebenen Räume zwischen erstarrten Aug- und Fluchtpunkten begeisterten und überzeugten die gebildeten Völkerschichten des Westens. Die Perspektive etablierte sich als «wahrhaftige» Wiedergabe optischer Tiefe.
 
Perspektive heisst wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt Durchblick. In der aufkeimenden Architekturtheorie der Renaissance spielte sie eine prominente Rolle. Der aus Bologna stammende Sebastiano Serlio (1475-ca. 1554) gab seinem Universalwerk sette libri dell'architettura den zweiten Titel Tutte l'opere d'architettura et prospetiva, also «Alle Werke der Architektur und der Perspektive». Besonders berühmt sind seine beiden perspektivisch aufgebauten Bühnenbilder von zwei Städten, eines für die Tragödie, eines für die Komödie. Beide Darstellungen sind Zentralperspektiven, die mit Fluchtpunkten in der Mitte des Bildes Tiefe schaffen. Sie lassen sich interpretieren als ein Plädoyer für die Schaffung von Achsen im Stadtraum (und wohl platzierten optischen Hindernissen auf ihnen). Ausserdem erscheint die Stadt hier als ausgewogene szenographische Gesamtkomposition, die sich zugunsten des Spektakels von ihrem ursprünglichen Zweck löst.
 
Im Laufe des 18. Jahrhunderts gesellte sich im Sprachgebrauch zur Blickachse die Zeitachse. Perspektive wurde neu auch zum Synonym für Aussicht in den Raum der Zukunft. Diese Erweiterung ist logisch: Auf der Zeitachse wickeln sich Planungen, Visionen und Konzepte der Nachhaltigkeit ebenso linear wie zielgerichtet ab. Der Begriff erhielt somit eine Art philosophische Veredelung: Zu Erdball und Augapfel gesellte sich die Kristallkugel.

Erich Mendelsohn profilierte sich mit über Eck-Perspektiven. Bild: Akademie der Künste, Berlin

Täuschungen
Die vermeintliche wissenschaftliche Redlichkeit der Methode der Perspektive hält einer näheren Betrachtung natürlich nicht Stand. Die Wahrnehmung räumlicher Tiefe lässt sich nach Belieben manipulieren. Allen, die schon an Visualisierungen arbeiteten, sind die Möglichkeiten der Bildoptimierung bekannt. Mit Genuss zerlegte vor einigen Jahrzehnten an der ETH Zürich Professor André Corboz in seinen Vorlesungen zur Geschichte des Städtebaus die Veduten Canalettos – fake news nach dem Geschmack der Kundschaft, die sich ein grosszügiges, luftiges Venedig für ihre Salons wünschten.
 
Auch Hollywood streute seinem Publikum in Sachen räumliche Tiefe seit Stummfilmzeiten reichlich Sand in die Augen. Der «rasende Reporter» Egon Erwin Kisch berichtete in den 1920er-Jahren über «Die gute ehrliche Perspektive»: «Sieh mal an», so schrieb er, «auf ihre alten Tage macht sie plötzlich Zicken … Vom Vergnügungswahn und Betätigungsdrang der Zeit erfasst, ging sie zum Film … Man hört die Filmbaumeister sie verfluchen, denn es gibt keine Riesenbauten mehr, man hört die Filmschauspieler sie verfluchen, denn es gibt keine Reisen zwecks Naturaufnahmen mehr, man hört die Filmdirektoren sie segnen, denn sie erspart Millionenausgaben.» Der Autor erhielt nämlich tiefe Einsicht in die Miniaturenfabriken und Trick Departments der Studios. Vom legendären deutschen Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau ist überliefert, dass es für den legendären Film Sunrise (Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen, 1927) kleinwüchsige Statistinnen und Statisten anheuerte, die im Mittelgrund in massgeschneiderten Staffagen räumliche Tiefe simulierten. Heute sorgen Blue Screen, digitale Bilder und Nachberbeitungen für die gewünschte Perspektive.

Matte Shot für Ben Hur (1927). Bild: nzpetesmatteshot.blogspot.com

Interpretationsfragen
Wir haben uns an die Perspektive gewöhnt. Gelegentlich geht deshalb mancherorts vergessen, dass sie eine gesellschaftliche Konvention ist; wer sie betrachtet, ist fähig und willens, Tiefe in der Fläche zu erkennen. Es ist davon auszugehen, dass bedeutende Teile der Menschheit sich nicht an dieser Konvention beteiligen. Insbesondere in Afrika wurden Nachforschungen über die Tiefenwahrnehmung in Bildern gemacht. Wiederholt führten sie zur Feststellung, dass diese Art der Abstrahierung in der entsprechenden Kultur nicht verankert war und zwischen nah und fern im Bild nicht differenziert wurde. Murnau hätte diese Menschen nicht täuschen können: In einem Kleinwüchsigen sehen sie einen Kleinwüchsigen.
 
Setzt man sich mit diesen Untersuchungen auseinander, stellt sich zwingend die Frage, wie sehr die Akzeptanz der perspektivischen Darstellung unsere Raum- und Zeitwahrnehmung beeinflusst und wie sehr sie zu Fehlinterpretationen bei der Beurteilung der Wahrnehmung anderer, «kulturfremder» Menschen verleiten kann. Es gibt schliesslich durchaus Alternativen zur perspektivischen Sicht, insbesondere auf die erwähnte Zeitachse bezogen, beispielsweise eine zyklische Sicht der Dinge. Kaum alle Menschen leben mit der Überzeugung, ein spezifisches Wesen mit einer Aussicht zu sein, kaum alle orientieren sich nach Fluchtpunkten. Deshalb stellt sich die Frage, ob Architektur und Städtebau die Bedeutung der Perspektive nicht realtivieren müssen – gerade auch in Gebieten, die von der «kulturfremden» Zuwanderung stark betroffen sind.

Hassan Fathy, Darstellung von New Gourna, Ägypten. Bild: Pearleo/Pininterest

Alternativen
Sind wir Sklaven der Perspektive? Danach sieht es glücklicherweise nicht aus. Gerade Architektinnen und Architekten sind ihr immer wieder mit Skepsis begegnet. Besonders eindrücklich sind die Planzeichnungen des Ägypters Hassan Fathy (1900-1989), der sich an traditionellen Darstellungsmethoden seines Landes orientierte. Sein Werk erscheint als «anti-perspektivisch». Die Moderne mit ihrer Betonung der Horizontalen als visuelle Leitplanken nutzte die perspektivische Darstellung zwar sehr oft, insbesondere in  dramatischen über Eck-Ansichten, wie die berühmten Skizzen von Erich Mendelsohn (1887-1953) exemplarisch dokumentieren. Und der Städtebau des 19. Jahrhunderts mit seinen Schneisen und Fluchten begünstigte eine optische Dynamik im Siedlungsraum, die sich mit der zunehmenden Wichtigkeit schneller Verkehrsmittel akzentuierte. 
 
Es gibt aber auch verschiedene moderne Alternativen zur Perspektive als Ordnungs- und Kompositionsmittel. Dies zeigt beispielsweise das Essay «Transparenz» von Colin Rowe und Robert Slutzky. Mit Bezug auf die moderne Malerei befasst es sich mit einer aperspektivischen Raumtiefe. Von städtebaulicher Relevanz dürfte die Berliner Philharmonie von Hans Scharoun (1893-1972) sein, die in den frühen 1960er-Jahren gebaut wurde. Der als «Weinberg» inszenierte grosse Saal verzichtet ebenso auf Fluchtpunkte wie die ihn umgebende Foyerzone, räumliche Tiefe wird durch die Empfindung von inneren und äusseren Raumbereichen ersetzt. In eine ähnliche Richtung ging das utopistische Projekt Intrapolis des Universalkünstlers Walter Jonas (1910-1979). Es sah kreisförmige Trichterhäuser vor, die ganze Quartiere mit Terrassenhäusern enthielten.

Diese Beispiele lassen den Schluss zu, dass Alternativen zur Perspektive die Auseinandersetzung mit Intro- und Extravertiertheit, mit dem Gegensatzpaar Aufenthalt und Fortbewegung bedingen. Diese Beschäftigung verlangt nach Entscheiden, wie sie für die Gegenwart eigentlich charakteristisch und prägend sind.

Modell der Trichterstadt von Walter Jonas. Bild: Heinz Baumann/ETH-Bibliothek Zürich

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