Stolipinowo sprengt Erwartungen

Manuel Pestalozzi
5. 九月 2019
Man mag im Quartier Stolipinowo der bulgarischen Stadt Plowdiw vielleicht keinen «Fortschritt» erkennen, doch es wirkt wie ein funktionstüchtiger, vitaler Organismus. (Foto: Manuel Pestalozzi)
In der Europäischen Kulturhauptstadt 2019

Mein Besuch in Stolipinowo begann mit einer Taxifahrt. Sie endete unter hoch aufragenden Laubbäumen an einer Ecke der Ulica Landos. Die breite Quartierstrasse biegt rechtwinklig ab von der Hauptausfallachse nach Osten. Sie verläuft nach Norden und erschliesst ein ebenes Gelände, das durch eine Schlaufe der Mariza, die durch Powdiw fliesst, und ein Auengebiet begrenzt wird. Links erstreckt sich Stolipinowo, rechts Isgrew. Letzteres ist ein klassisches Plattenbau-Viertel aus der Zeit, als Bulgarien noch eine Volksrepublik war. Die Liebe der Bulgaren zu schönen Grünräumen ist auch hier evident: Der graue, oft bröckelnde Sichtbeton verschwindet meistens hinter üppigen Blätterdächern. Verglichen damit ist Stolipinowo eine gänzlich andere Welt.

Mein Besuch war Programmpunkt einer Gruppenreise in die Europäische Kulturhauptstadt 2019. Stolipinowo sollte die Performance Plowdiws als solche unter Beweis stellen. Im Vorfeld las ich, dass das künstlerische Programm, mit dem Stolipinowo aktuell bespielt wird, der ausschlaggebende Punkt war, weswegen das zuständige Gremium sich für Plowdiw entschieden hatte. Doch man liest viel und mitunter Widersprüchliches über dieses Schlüsseljahr für die zweitgrösste Stadt Bulgariens, dem ärmsten Mitgliedstaat der EU, dem wenig öffentliches Interesse zuteil wird. Ich werde mich bei diesem Reisebericht deshalb auf meine unmittelbaren Eindrücke konzentrieren.

Auf diesem Stadtplan ist die Ulica Landos rot markiert. Die grauen Flächen kennzeichnen grössere Wohnhäuser oder öffentliche Bauten. (Plan via kodeks.uni-bamberg.de)
Ausgelagert

Ganz ohne Recherche wollte ich dann aber doch nicht aufbrechen. Wikipedia hilft; die freie Enzyklopädie gibt es glücklicherweise auch in einer bulgarischen Version. Dort erfährt man, dass Stolipinowo 1889 weit ausserhalb des damaligen Stadtgebiets entstand. Plowdiw setzte sich zu diesem Zeitpunkt aus diversen ethnischen Vierteln zusammen. Nach einer Masernepidemie siedelte man die Roma aus ihrem Quartier in dieses «Dorf» um. Man benannte es nach dem russischen General Arkady Dmitrievich Stolypin, Stellvertreter des Prinzen Alexander Michailowitsch Dondukov-Korsakov, der im 19. Jahrhundert das bulgarische Volk von den Osmanen zu befreien half.

Pläne aus den 1940er-Jahren zeigen bereits das enge orthogonale Strassenraster, das Stolipinowo bis heute prägt. Wie die Gevierte genau bebaut wurden, liess sich leider nicht in Erfahrung bringen. Jedenfalls wurden die Roma vom sozialistischen Regime zur Sesshaftigkeit gezwungen. Allmählich erhielt das leicht abgelegene Gebiet eine komplette städtische Infrastruktur, auch in Stolipinowo entstanden am Rande des Quartiers grössere Plattenbauten, die sich von jenen im benachbarten Isgrew nicht unterscheiden. Bezüglich der späteren, postsozialistischen Entwicklung muss ich mich primär auf die Ausführungen von Genika Baycheva verlassen. Die bulgarische Kulturmanagerin betreute die Kulturhauptstadt-Programme in Stolipinowo. Und auch ihr Wissen beruht zumeist auf Erzählungen. Sie zeichnete für das an sich urbane, pulsierende Quartier das Bild einer fortschreitenden Desintegration.

Die Flagge der EU ist im Quartier durchaus präsent. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Desintegration

Erzählt wird, dass mit dem Ende des Sozialismus eine neue kulturelle Segregation begann. Ein Grund dafür war eine Wirtschaftskrise, insbesondere in der Tabakindustrie, die in Bulgarien bis anhin zahlreiche Arbeitsplätze für wenig qualifizierte Kräfte bot. Dies sorgte für Migrationsbewegungen, welche auch in Stolipinowo tiefe Spuren hinterliessen: Bulgaren zogen weg, andere Ethnien liessen sich nieder, das Quartier erwarb sich den Ruf eines Ghettos. Das Personal meines Hotels (Luftlinie nur 3 Kilometer entfernt) war entsetzt, als es von den Besuchsplänen meiner Reisegruppe erfuhr. Man muss das als Zeichen einer Entfremdung verstehen.

Genika Baycheva bestätigte mit ihren Ausführungen den Eindruck, dass sich verschiedene Bevölkerungsschichten auseinanderleben. Allerdings ist Stolipinowo kein «Zigeunerviertel», nur 20 Prozent der Menschen bezeichnen sich als Roma, 70 Prozent hingegen als türkischstämmig. Der Islam ist die vorherrschende Religion, aber auch die evangelische Kirchen ist in Stolipinowo anscheinend gut verankert. Die Kinder gehen nicht mehr zur Schule, ihr Wissen beziehen Sie aus Fernsehen und Internet. Sie sprechen laut Baycheva kein Bulgarisch mehr, obwohl ihre Vorfahren aus diesem Land stammen. Viel wichtiger sind die Beziehungen zu Angehörigen, die in Westeuropa ein Auskommen gefunden haben. Die Kontakte zu ihnen werden offenbar intensiv gepflegt. Protzige Autos mit bundesdeutschen Nummernschildern sind in Stolipinowo keine Seltenheit.

Die Bebauung ist so dicht, dass das ursprüngliche Strassenraster nur noch teilweise erkennbar ist. Die Ulica Landos ist wiederum rot markiert. (Foto: Google Earth)
Dichte der anderen Art

Nachdem die Reisegruppe auf Pferdewagen durchs Quartier gezogen worden war, durfte sie sich in Begleitung in die engen Gassen vorwagen. Die ursprünglichen Strassen sind teilweise fast verschwunden im dichten Gewirr von Backsteinbauten, die mit Ziegeldächern gedeckt sind. Man fühlt sich erinnert an historische Städte, die einst von den Römern angelegt und anschliessend von anderen Kulturen nach deren Prinzipien modifiziert wurden. Es scheint klar, dass die Stadtbehörden mit dem jähen Niedergang des kommunistischen System weitgehend die Kontrolle preisgaben und keine Baulinien oder -regeln mehr durchsetzten.

Stolz erzählten uns die Begleitpersonen, dass hier niemand sein Haus abzuschliessen brauche. Baycheva bestätigte, was man auf Schritt und Tritt spürte: Die soziale Kontrolle ist rigide – auf eine «dörfliche» Art. Wir erblickten auch verschiedene Werkstätten. Stolipinowo ist bekannt für seine opulenten Brautbekleidungen. Die Infrastruktur scheint im Wesentlichen intakt: Es gibt Strom, eine Strassenbeleuchtung, auch die Kanalisation scheint in einem funktionstüchtigen Zustand zu sein. Die Abfallhalden, die gelegentlich in der Presse zu sehen sind, befinden sich an peripheren Lagen, vor allem bei den Plattenbauten, in deren Nähe eher ephemere Raumeinheiten wie Garagen- oder Schiffscontainer stehen.

In den Gassen scheinen keine Bauregeln zu gelten. (Fotos: Manuel Pestalozzi)
Existenzgrundlagen

Als begleiteter und geführter Besucher gewann ich den Eindruck: Stolipinowo lebt. Das Quartier wirkte gewiss nicht wie ein Warteraum oder ein «Depot», in das Menschen sozusagen verbannt sind. Hier wird in Gebäude investiert, werden Geschäfte getätigt. Augenfällig war an den meisten Orten die Sauberkeit aber auch die Absenz von verbindlichen Regeln oder Gesetzen. Als Marktplatz und Begegnungsort erfüllt Stolipinowo Grundvoraussetzungen, welche eine funktionsfähige Stadt erfüllen muss. Von der Idee der «kuratierten urbanen Dichte», von der man in unseren Breiten bisweilen so sehr schwärmt, ist der Ort allerdings meilenweit entfernt. Eigentlich stellt er deren Prinzipien auf den Kopf, indem er auf Ethnie, Traditionen, «Dörflichkeit» und, ja, Abgrenzung setzt. 

In den Worten von Baycheva wird in Stolipinowo eine «Culture of Proximity» gepflegt. Das Viertel ist kein weltoffner Ort, an dem man Fremden sofort sein Vertrauen schenkt und sie teilhaben lässt. So ritzten auch die Performances, die das Kulturhauptstadt-Team ins Quartier brachte, wohl nur knapp die Oberfläche. Interessanterweise waren diese Aktionen zum Teil explizit mit Mobilität und Vergänglichkeit verbunden: Sie heissen «Mobile Piano», «Mobile School Stolipinowo» und dergleichen mehr. So als seien sie von vornherein konzipiert als flüchtige Berührungen einer Welt, welche die Vorstellungen und Erwartungen des «kultivierten Europas» sprengt.

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