Stringenz mit Bruch

Cyrill Schmidiger
20. 二月 2020
Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA

Thusis, eine kleine Gemeinde mit etwas mehr als 3'000 Einwohner*innen, ist bedeutend gelegen: Der Bündner Ort bildet nicht nur das nördliche Eingangstor zur Viamala-Schlucht, sondern steht auch am Anfang der spektakulären Albulalinie der Rhätischen Bahn. Charakteristisch – und zugleich untypisch für die helvetische Siedlungsgeschichte im ländlichen Raum – ist sein alter Dorfkern, denn hier dominieren keine gewundenen Strassen wie bei organisch gewachsenen Orten. Die Erklärung: 1845 brannten in Thusis rund 80 Häuser mit ebenso vielen Pferdeställen nieder, und der anschliessende Wiederaufbau erfolgte rasterartig. Diese klare Ordnung fehlt in den Aussenquartieren, die sich architektonisch und strukturell uneinheitlicher entwickelt haben. Dementsprechend präsentieren sich auch die Häuser am Hang, wo im April 2019 nach einjähriger Bauzeit ein von Angela Deuber entworfenes Projekt fertiggestellt wurde. Die Architektin hat einen kraftvollen Solitär geschaffen, der sich erfrischend von seinem Umfeld abhebt.

Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA
Spiel mit der Fuge

Anders als die Nachbarbauten orientiert sich die expressive Gebäudeform nach drei Seiten: einmal hin zum markanten Piz Beverin, dann zur Viamala und schliesslich zur reformierten Kirche St. Cassian in Sils im Domleschg, deren Kern aus dem Mittelalter stammt. Trotz dieser offenen Geste ist das von einer Person bewohnte Haus sehr kompakt: Eine Stütze, innen zwei nahezu freistehende Wände und vier Ecken bilden die tragende Struktur des eingeschossigen Baus, der sich auf einem Plateau rund 24 Meter erstreckt. Die Parzelle mit Garten misst rund 700 Quadratmeter. Das Dach ist gleichzeitig ein Autounterstand und wurde quer zum Wohntrakt angeordnet. Erschlossen wird dieser Deckplatz über eine kleine Brücke. Von dort führt eine Treppe mit schlichtem, betongrau gestrichenem Metallhandlauf zum Eingang hinunter. Hier kommt es zu einem bewussten Bruch im architektonischen Konzept: Im Innern unterbricht ein dreiecksförmiger Bereich den langgezogenen Raum und definiert das Entree. Angela Deuber bezeichnet diese Zone als Fuge, weil sie die einzelnen Partien voneinander trennt. Das Element setzt einen Kontrapunkt in einer stringenten Komposition und illustriert ein subtiles manieristisches Spiel mit Regeln und gezielten Ausnahmen. Das offenbart exemplarisch der Grundriss, wird doch der östliche Gebäudeteil quasi aufgeklappt. Die ästhetischen Konsequenzen sind dabei sehr unterschiedlich. Ist die Fuge eine imperfekte, aber bereichernde Geometrie? Stimuliert sie die additive Anordnung von unterschiedlichen Figuren? Oder ist sie doch eher als Strategie zu lesen, um repetitive Gesten und räumliche Monotonie zu vermeiden? Das sind Fragen, denen Angela Deuber auch theoretisch nachgeht, so in Mendrisio und Oslo, wo sie aktuell Entwurfsprofessorin ist.

Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA
Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA
Lieblingsfarbe Grau

Die schnittige und vieleckige Kubatur zeigt sich nicht nur in den reduzierten Formen, sondern auch in einfachen und schlichten Materialien. Grau dominiert das Erscheinungsbild, es ist die Lieblingsfarbe der Eigentümerin. Ein Bau in diesem Kolorit, das war eine ihrer Bedingungen neben den Forderungen, dass sowohl der Sitz- als auch der Autoplatz gedeckt sein muss und alles aus einem Guss bestehen soll. Türen und Fensterrahmen setzen Akzente in pigmentiertem Lärchenholz und muten ausdrucksvoll und direkt an. Der helle, vor Ort mit Elementschalung erstellte Sichtbeton schafft mit seinen Produktionsspuren manchmal fast schon ornamentale Muster. Diverse Mauern verzahnen den 70 Quadratmeter grossen Neubau mit der geneigten Topografie, wodurch dieser weitläufiger erscheint als er tatsächlich ist. Mehrere raumhohe Fenster und eine breite, südseitig orientierte Glasfront, aber auch das fliessende Raumkontinuum tragen entscheidend zu dieser offenen Geste bei. In der zehn Meter langen Stube steht dezent und unmittelbar vor dem Fenster die einzige Stütze des Gebäudes. Sie ist mit einer Art abstrahiertem Kapitell ausgestattet. Die dreiecksförmige Eingangssituation sorgt einerseits für eine klare Zonierung, anderseits ist sie vermittelnd, öffnet sich doch jeder der drei Raumteile – Wohnzimmer, Küche und Privatbereich – gegen die beiden anderen hin. Die Betonbodenplatte mit dem zufällig angeordneten Kies wurde direkt fugenlos geschliffen und ist von unten gedämmt. Entstanden ist eine feinfühlige Architektur in einem intelligenten Arrangement.

Minimalistisch, aber expressiv

Mit seinen schlichten Materialien, seiner starken Geometrie und seiner reduzierten Farbpalette oszilliert der Neubau zwischen intensiver Gestaltung und asketischer Tugend. Die spitz zulaufende dreieckige Wand, die westseitig das Wohnzimmer mit der Terrasse verbindet und gleichzeitig die Mauer des Gartensitzplatzes bildet, erinnert unter anderem an die Formensprache von Zaha Hadid. Auf dem Campus des Vitra Design Museums in Weil am Rhein stellte sie 1993 ihre berühmte Feuerwehrwache fertig, die sich durch scharfe Diagonalen und auskragenden Elementen auszeichnet. Eine Referenz findet sich aber auch in der modernen japanischen Architektur: Durch das fast schon poetische Gestalten mit Beton, das Interesse an räumlich-atmosphärischen Fragen oder das Fokussieren auf Einfachheit und Reduktion existieren diverse Parallelen zu Tadao Ando.

Foto: Schaub Stierli Fotografie © Archiv ADA
Kohärent

2017 erhielt Angela Deuber für das 2013 vollendete Schulhaus Buechen in Thal den mit 50'000 Franken dotierten Architekturpreis «Beton». Wie in Thusis sind es neben dem roh belassenen Material die starken Formen, die dem Bau seine charakteristische Note geben: Dreiecksförmige Fenster, die ein gestalterisches Echo zu den Balkonbrüstungen bilden, sind unterschiedlich rhythmisiert und teils übereck angeordnet. Schon damals arbeitete sie mit simplen Regeln und gezielten Ausnahmen, eröffnet sich doch innerhalb eines geordneten Rahmens ein elegantes, leicht anmutendes Spiel von Glasfronten und Aussparungen. Zwei Aussentreppen verlaufen zudem seitenübergreifend, fein erscheinende Stützen sind schräg gestellt. Trag- und Raumstruktur sind identisch – die umlaufende Balkonschicht und das innere Volumen wirken statisch zusammen, sodass die Konstruktion wie in Thusis unmittelbar mit der Präsenz des Gebäudes verbunden ist. In Stuls setzte Angela Deuber ihr Gefühl für Raum und Materialität ebenso virtuos um. Dort baute sie ein denkmalgeschütztes Doppelhaus um, das durch eine labyrinthisch anmutende Struktur besticht. Und nun arbeitet sie bereits an einem neuen Projekt: In Baden gestaltet sie ein 57 Meter hohes Wohn- und Geschäftshaus, das vorwiegend aus Glas bestehen wird. Die Renderings verraten auch hier, dass die Architektur leicht und filigran sein wird, offen mit dem Umfeld kommuniziert und dabei faltend das Volumen bricht – Prinzipien, die sich ebenso in Thusis finden.

Grundriss Erdgeschoss
Axonometrie
Name des Bauwerks 
Privathaus in Graubünden

Ort 
7430 Thusis

Architektur 
Angela Deuber, Chur
Angela Deuber (Projektleitung), Hirona Tsuchiya, David Hagberg

Fachplaner 
Bauingenieur: Patrick Gartmann, Ferrari Gartmann AG, Chur

Jahr der Fertigstellung 
2019 

Massgeblich beteiligte Unternehmer 
Baumeisterarbeiten: Beni Baumeister, Thusis 
Holzfenster: Wenger Fenster AG, Wimmis, BE 
Metallbauarbeiten: Mario Waser, Passugg, GR

Fotos Schaub Stierli Fotografie

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