Sublime Landschaften

Susanna Koeberle
1. 十一月 2019
Installationsansicht aus «Towards No Earthly Pole» (Foto: Jens Ziehe © Julian Charrière, ProLitteris, 2019)

Die Pole schmelzen, das Eis löst sich auf, das Wasser fällt und fällt. Man hört es rauschen und krachen im Dunkeln, dazu ertönt ein Klangteppich, der selbst Landschaftscharakter annimmt. Es ist unheimlich – und schön. Man könnte auch den Begriff des Erhabenen heranziehen, um die Ambivalenz der Kunst von Julian Charrière (*1987) zu beschreiben. Seine räumliche und filmische Installation «Towards No Earthly Pole», die zurzeit im Masi Lugano zu sehen ist und die sich in einem abgedunkelten Raum «abspielt», ist von überirdischer Schönheit; zugleich führt sie die zerstörerische Wucht der Natur vor. Schönheit kann auch wehtun. Dieses Paradoxon wird auch in den Bohrlöchern erfahrbar, die der Künstler in lokale Steine (aus dem Maggiatal) machen liess. Mehrere Findlinge sind wie erratische Blöcke im Raum verteilt und bilden eine Art dystopische Landschaft. Neben den Steinen liegen die herausgebohrten Stücke. Dort, wo der Stein bei der Extraktion gebrochen ist, hat Charrière die Bruchstelle (oder Wunde) mit drei Edelmetallen «geflickt». Diese Arbeit zeigt auf anschauliche Weise, was passiert, wenn der Mensch in die Natur eingreift. 

Das Thema ist zwar zurzeit besonders aktuell (Stichwort Anthropozän), doch genau genommen war die Beziehung zwischen Mensch und Natur immer schon problematisch, nämlich künstlich. Die Idee von «Natur» ist ein menschliches Konstrukt, wir idealisieren sie und machen uns ein Bild von ihr zurecht. Auch in der Kunst hat die Darstellung von Landschaften eine lange Tradition. Julian Charrière schafft es, einen Bogen zu spannen zwischen den entgegengesetzten Polen Realität und Imagination. Es ist wohl diese Sensibilität, die ihn zu einem der Shootingstars am zeitgenössischen Kunsthimmel macht. 

Installationsansicht aus «Towards No Earthly Pole» (Foto: Jens Ziehe © Julian Charrière, ProLitteris, 2019)

Obwohl der Künstler für seine Arbeit vor allem extreme und abgelegene Gegenden mit ganz spezifischen geographischen und klimatischen Identitäten aufsucht und sich dabei selbst an die Grenze der Möglichen begibt, wäre es verkehrt Charrière auf den Aspekt des Klimaaktivisten zu reduzieren. Vielmehr müsste man ihn einen Konzeptkünstler nennen. Oder einen modernen Forscher, der auf seinen Expeditionen das Unbekannte an die Oberfläche holt. Um es uns dann ins Gesicht zu schleudern. Durch seine Kunst erleben wir den wohltuenden Schauder des Erhabenen. Wer sich in Lugano 100 Minuten Zeit nimmt, kann mit dem Künstler auf eine Reise gehen. Beziehungsweise mit den Drohnen, die Charrière für die filmischen Aufnahmen verwendet hat. Die speziell für die Kälte dieser Gegend ausgerüsteten Geräte haben nächtliche Bilder eingefangen, die dem menschlichen Auge eigentlich nicht zugänglich sind. Und deswegen nur in der Kunst ihren Weg zu uns finden. Oder in der Dichtung: Ich lasse an dieser Stelle den Dichter Paul Celan sprechen mit seinem Gedicht «Heimkehr». Lesen Sie es. Und gehen Sie in die Ausstellung.

Installationsansicht aus dem Eingangsbereich von «Towards No Earthly Pole» (Foto: Jens Ziehe © Julian Charrière, ProLitteris, 2019)

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