Kommentar
Vergiftete Diskussionen: Es gibt Grund zur Sorge um die Sitten auf Social Media
Sabine von Fischer
14. 十二月 2022
Foto: Magnus Mueller via pexels.com
Je gründlicher die sozialen Medien die öffentlichen Orte der Diskussion ersetzen, desto mehr kommen uns die Umgangsformen abhanden. Und mit ihnen die Kultur einer angemessenen Debatte über Architektur.
Toxisch war früher ein medizinischer Begriff. In jüngerer Zeit nehmen Architekturkritiker*innen das Wort gerne in den Mund, denn es nimmt vieles in sich auf: den Zeitgeist und die Frage der Wirkung von Worten im sozialen Raum. Dieser soziale Raum befindet sich immer öfter im Internet, in den sozialen Medien eben.
Man mag mir meine Zurückhaltung vorwerfen, auf Social Media genauso wie an Podiumsdiskussionen. Ich debattiere gerne und halte mich dabei an den Leitsatz eines erfahrenen Mitarbeiters des Katastrophenhilfekorps des Roten Kreuzes: «Il est urgent d’attendre.» («Es ist dringend, zu warten.») Dringender als die vorschnelle Reaktion ist das präzise Abwägen. – Dieser Ratschlag gilt nicht nur in der Katastrophenhilfe, sondern soll hier auch der Architektur-Community nahegelegt werden.
Nicht erst seit der Pandemie sind die sozialen Medien zum öffentlichen Ort par excellence geworden. Diese Entwicklung reicht weit zurück und wird auch weitergehen. Schön wäre nur, wenn das Toxische und Social Media nicht so eng verknüpft wären. Bei aller Liebe für elektronische Vernetzung und allgegenwärtigen Zugang zu Informationen: Viele im Alltag immer freundliche, anständige Menschen legen vor dem Bildschirm allzu viele ihrer Hemmungen ab.
Die Posts, die sich Medienschaffende zu ihren Artikeln zu Gemüte führen müssen, sind in vielen Fällen eine Zumutung: Sie sind rasch geschrieben, und die folgenden Kommentare noch schneller. Die enthemmten Kommentarschreiber schaukeln sich dabei jeweils gegenseitig in einen Tipp-Taumel, in dem nur noch zählt, wer möglichst rasch und jenseits allen Anstands seine Meinung äussert.
Manchmal sind diese Kommentare so schnell online, dass die Schreibenden die verlinkten Artikel offensichtlich gar nicht gelesen haben. Es gibt Themen, bei denen sich auch aus spontanen Auseinandersetzungen eine interessante Diskussion entwickelt. In Bezug auf Themen wie Teilzeitarbeit beispielsweise habe ich dies mehrfach erlebt. Doch bei Besprechungen von Architektur leider – kaum.
Architekturdebatten auf Social Media? Leider nur auf unterirdischem Niveau. Nach einigen Jahren als Architekturredaktorin einer grossen Schweizer Tageszeitung schloss ich mein Konto bei Facebook, weil mich die saloppen und zuweilen aggressiven Kommentare nicht nur ärgerten. Sie raubten mir die für die Arbeit nötige Konzentration. Dies allerdings bedeutete nicht, dass mir die Stürme von Scheisskommentaren («Shitstorms», wie die Angriffe geradezu liebevoll genannt werden) nicht andernorts, während einer Zugfahrt oder an einem echten Diskussionsabend (einer physischen Veranstaltung, diese gibt es noch), zugetragen wurden.
Zu behaupten, dass vor allem Frauen Opfer der meist von Männern verfassten Attacken auf Social Media seien, trägt wenig zur Klärung der Situation bei. Eine solche Begründung wäre unvollständig. Der Unmut von Journalistinnen und Redaktoren bezüglich fahrlässiger, meist launisch verfasster Pauschalbeschuldigungen nimmt zu. Nicht nur Swiss-Architects-Chefredaktor Elias Baumgarten erzählt mir von Anfeindungen und sogar Diffamierungen. Viele, mit denen ich gesprochen habe, erleben statt der vielbeschworenen Diskussionskultur auf Social Media vor allem schludrig getippte, unfaire und unsachliche Angriffe auf ihre Arbeit.
Mit Elias Baumgarten habe ich mich nun verständigt, dass ich einen Text über toxische Kommentare schreibe, den espazium.ch und Swiss-Architects gemeinsam veröffentlichen. Als wir uns zur Lage des Architekturjournalismus austauschten, erinnerte er mich nämlich kürzlich an eine Episode aus der jüngeren Vergangenheit: Auf Facebook behauptete ein Kollege, mein Text zur Architektur von Kengo Kuma in Vals («Das Valser Anti-Objekt») plaudere der PR-Industrie nach. – So ein Blödsinn: Ich hatte keinen einzigen Satz aus dem Marketing kopiert, sondern mit vielen Menschen gesprochen und Literatur zur Architekturtheorie, zu technischen Details und zur Geschichte des Dorfes studiert.
Als Journalistin ist es mein Beruf, nachzufragen. Also frage ich: Welche PR-Unterlagen meinst Du? Worauf stützt sich diese Behauptung? Hast Du den Text wirklich gelesen? Der Kollege, der diesen Vorwurf des Abschreibens in einem Facebook-Post formulierte und damit Ende Oktober eine testosterongetränkte Diskussion anregte, ist einer unter vielen, die gerne polemisch schreiben. Zwischenzeitlich wurde der besagte Post entfernt. Dank eines Austauschs ohne Eile, dafür mit Anstand, ausserhalb der sozialen Medien.
Dass eine Journalistin Medienmitteilungen abschreibe, ist kein harmloser Vorwurf. Nicht gründlich oder sogar gar nicht zu recherchieren, ist die schlimmste Unterstellung, die man einer Journalistin machen kann, denn gerade das (und wahrscheinlich nur das) unterscheidet den unabhängigen Journalismus noch von der allgegenwärtigen und überall Einfluss nehmen wollenden Marketingbranche.
Aus juristischer Sicht ist hier wichtig anzumerken, dass diese Angriffe nur selten auf die Person zielen. Meist wird «nur» die Arbeit schlechtgemacht. Dieses «nur» müsste allerdings in einer Dreifachklammer stehen, denn Journalismus als «Dienst nach Vorschrift» gibt es nicht. Ohne persönliches Engagement, ohne Interesse für auf den ersten Blick banale Dinge, ohne Tage der Recherche und Nächte des Schreibens, ohne lange Gespräche und die Bereitschaft zu Diskussionen gibt es keine verlässliche Presse und also auch keine Architekturkritik.
Wann ist eine Aussage pointiert, und wann ist sie unbegründet, unsachlich, unfair? Oft wird auf Social Media kommentiert, ohne dass der im Post verlinkte Artikel überhaupt gelesen wurde. Nicht der Artikel, sondern der Titel des Posts ist der Trigger für einen Kommentar.
Dieser Kommentar wiederum folgt einer einfachen Logik: Hauptsache Aufmerksamkeit. Social Media als der neue öffentliche Raum, besetzt von streitlustigen Männern. Persönlich angesprochen, gaben sich die Schreiber der Online-Kommentare (bisher ausschliesslich männlichen Geschlechts) bis anhin jedes Mal sanft und zahm. So seien eben die Sitten auf Social Media. Als Personen des öffentlichen Interesses seien sie zu pointierten Meinungsäusserungen geradezu verpflichtet.
Wirklich? Sind die schlechten Sitten, die in den sozialen Medien überhandgenommen haben, gerechtfertigt, weil man sich so in der Öffentlichkeit positioniert? Ob die Diskussion dabei auf der Strecke bleibt, interessiert wenig. Dabei bräuchte es auch hierzulande dringend eine Architekturkritik, die in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs eingebettet ist.
Im Gleichschritt zum Kostendruck in der Medienbranche geht der Verlust von Interesse an einer differenzierten Argumentation einher. Schnelle News ersetzen längere Überlegungen und Recherchen. Der Beruf der Journalistin und des Redaktors ist ein Auslaufmodell. In der Schweizer Tagespresse gibt es, seit meine letzte Arbeitgeberin meine Stelle abbaute, keine Architekturredaktoren mehr. Es bleiben im deutschsprachigen Raum immerhin noch Laura Weißmüller und Gerhard Matzig bei der Süddeutschen Zeitung und Niklas Maak bei der Frankfurter Allgemeinen; und im Inland verschiedenste Fachmedien mit kulturellem und gesellschaftspolitischem Anspruch. Alle bahnen sich ihren Weg in die digitale Zukunft, in der auch papierlos weiterhin gelesen wird. Die dringende Frage ist nicht die nach der Materialität (Papier, Bildschirm oder eine LED-Folie im Zeitungsformat), sondern die nach dem Inhalt.
Bald, auf jeden Fall früher als wir zu denken wagen, wird es nur noch von Interessenvertreter*innen und der PR-Industrie finanzierte «Publireportagen», «Paid Posts» und «Sponsored Content» geben. Blöd für die Presse, könnte man nun denken. Nur: Bezahlte Werbeinhalte sind besser entlöhnt als der vom Aussterben bedrohte Journalismus. Für die Autor*innen selbst ist der Verlust am Ende also kleiner als für die Gesellschaft als Ganzes.
Ohne Journalismus wird die Basis für informierte Debatten fehlen. Diskutieren allerdings geht auch ohne Information: Die toxischen Kommentatoren in der digitalen Öffentlichkeit werden auch nach dem Verschwinden der Architekturkritik noch Anlässe für ihre Aufregung finden. Etwa eine Werbeanzeige für Unterhosen oder Fake News zur Energiewende. Achtung: Ironie im Journalismus läuft Gefahr, missverstanden zu werden.
Trotzdem: Es wird schon passen.
Zumindest für alle, die toxische Kommentare mit einem Glas Wein oder Whiskey herunterspülen.
Allen anderen widme ich diesen Text.
Für mich selbst ist er mit einem Wunsch verknüpft: dem Wunsch nach einer hohen Diskussionskultur.
Sich von Sabine von Fischers Artikel zum Kengo-Kuma-Bau in Vals selbst einen Eindruck verschaffen kann man hier.