«Architektur bedeutet auch, Geschichten weiterzuschreiben»

akkurat bauatelier
14. März 2024
Das «Neuhaus» kehrt der Innenstadt eine beeindruckende Schauseite zu. (Foto: Damian Poffet)
Herr Reutimann, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Architektur bedeutet auch, Geschichten weiterzuschreiben. Bei diesem Projekt gilt das ganz besonders: Das Haus hat schon vor uns viele Nutzungen und Umbauten erlebt. Aus der einstigen Remise wurde ein Gasthaus mit Saal und später ein Hooters-Restaurant. Jetzt haben wir es zum gemischten Gewerbe-, Dienstleistungs- und Wohnhaus mit unserem eigenen Büro im Erdgeschoss gemacht.

Diese historische Aufnahme zeigt das Haus im Jahr 1925. Schon damals war das Bauwerk über 100 Jahre alt. (Foto: unbekannt)
Die Strassenseite des «Neuhauses» mit dem erhaltenen bauzeitlichen Haupteingang (Foto: Damian Poffet)
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


Zuallererst natürlich das bestehende Gebäude mit seiner Vergangenheit. Mit seinem Status als schützenswertes Gebäude im Inventar der Denkmalpflege des Kantons Bern gibt das Haus zu einem grossen Teil vor, wie es wiederherzustellen ist. Gleichzeitig war der Zustand des Gebäudes partiell durch die vielen Umbauten der Vergangenheit so schlecht, dass in enger Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege und auf Basis von Originalplänen der heutige Ausdruck definiert werden konnte.

Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


In seiner ursprünglichen Funktion als Kutschenremise an einer der damals wichtigsten Einfallsachsen Thuns war der Standort des «Neuhauses» zu seiner Bauzeit 1810/11 sehr sorgfältig gewählt worden. Allerdings veränderte sich der Kontext schon kurz darauf entscheidend: Die Fertigstellung der Eisenbahnlinie Bern–Thun 1859 sowie der Bau der Kaserne 1865 und damit die Entstehung des Waffenplatzes Thun führten zu einer massgeblichen Veränderung der Bedeutung des Hauses. All dies verursachte die heute etwas sonderbare, aber einmalige und durchaus reizvolle Situation relativ zentral in der Stadt Thun. Uns war es ein grosses Anliegen, dieses Gebäude sehr sorgfältig auf seinen nächsten Lebensabschnitt vorzubereiten und dabei die wichtigen kontextuellen Gegebenheiten und charaktervollen Spuren der Zeit mitzunehmen.

Neu interpretierte Wand und Deckenverkleidungen in den Besprechungsräumen, kombiniert mit einem Fischgrätparkett (Foto: Damian Poffet)
Blick in den ein paar Stufen tiefer gelegenen ehemaligen Remisenbereich, der heute als Büro und Atelier genutzt wird. (Foto: Damian Poffet)
Die neuen Einbauten und Verkleidungen folgen einheitlichen Teilungen und erinnern so an die früher gestemmten Wandtäfer. (Foto: Damian Poffet)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?


Da wir selbst die Bauherrschaft bildeten und uns auch selbst handwerklich betätigt haben, ist die Aufgabe nur schwer mit anderen Projekten vergleichbar. Wir haben es als grosses Privileg empfunden, einerseits ein so bedeutungsvolles Haus zu übernehmen und andererseits unsere Visionen von einem inspirierenden Arbeitsumfeld realisieren zu können.

Wie gliedert sich das Gebäude in die Reihe der bestehenden Bauten Ihres Büros ein?


Wir durften bereits viele denkmalgeschützte Gebäude bearbeiten, insofern haben wir auch bei diesem Projekt von der Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege des Kantons Bern profitiert. Wir finden es immer wieder spannend, die Vergangenheit von Orten und Gebäuden zu erkunden und sie auf ihrem Lebensweg ein Stück weit zu begleiten. Wir sind auch der Meinung, dass die gut 200 Jahre, die unser Haus alt ist, als Zeithorizont grundsätzlich eher eine minimale Perspektive sein sollten. Heute kann bei Neubauten oft geradezu von Wegwerf-Architektur gesprochen werden. Wir empfinden das als unerträglich.

Der Dachraum vor dem Umbau (Foto: Damian Poffet)
Im Dachgeschoss ermöglichen freistehende Kuben mit Küche und Bad die Nutzung als Wohnraum, erhalten aber die beeindruckende Wirkung des Gebälks. (Foto: Roland Trachsel)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?


Nein. Natürlich entspricht das Gebäude aktuellen Standards, das ist unumgänglich. Diese spielten aber bei unseren Überlegungen und Entwürfen eine untergeordnete Rolle.

Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?


Wie eigentlich immer haben wir viel Holz eingesetzt, schliesslich war das Gebäude im Innern schon immer ein Fachwerkhaus. Wo es möglich war, haben wir natürlich die Originalsubstanz erhalten. So sind zum Beispiel die bauzeitlichen, mit dem Fachwerk verzäpften Fensterbänke aus massiver Eiche erhalten geblieben. Lediglich die oberste Schicht wurde erneuert, wo dies nötig war.

Situation (© akkurat bauatelier)
Grundriss Erdgeschoss (© akkurat bauatelier)
Grundriss Dachgeschoss (© akkurat bauatelier)
Schnitt (© akkurat bauatelier)
Bauwerk
Neuhaus
 
Standort
Allmendstrasse 32, 3600 Thun
 
Nutzung
Büro-, Gewerbe- und Wohnhaus
 
Auftragsart
Direktauftrag
 
Bauherrschaft
Privat
 
Architektur
akkurat bauatelier, Thun
 
Fachplaner 
Denkmalpfleger: Fabian Schwarz, Denkmalpflege des Kantons Bern
Restaurator: Roger Tinguely, Steffisburg
Bauingenieur: EBING Bauingenieure GmbH, Thun
Holzbauingenieur: Indermühle Bauingenieure AG, Thun
Elektroingenieur: Elektro Hunziker AG, Thun
HLKS-Ingenieur: Müller Haustechnik GmbH, Adelboden 
 
Fertigstellung
2023
 
Fotos
Damian Poffet und Roland Trachsel

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