Gut gekleidet

Auteur
Thomas Geuder
Publié le
mars 4, 2014

Eine Fassade muss im Zweifelsfall mehrere Jahrzehnte funktionieren – technisch wie optisch. Wäre es da nicht praktisch, dem Gebäude nach einer Weile einfach ein neues Kleid überstreifen zu können? Möglich ist das bei der Kita Flugfeld aus der Feder der Stuttgarter (se)arch Architekten.
Noch befinden sich nicht viele Gebäude auf dem ehemaligen Flugfeld Böblingen-Sindelfingen, wo die «Kita Flugfeld» das Stadtquartier zukünftig prägen wird. (Foto: Zooey Braun) 
Überdimensionale Werbebanner an Gebäuden und Baugerüsten sind aus dem heutigen Stadtbild (leider) kaum mehr wegzudenken. Sie sollen die grösstmögliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen und einfache, schnell zu begreifende Botschaften vermitteln. Der positive Nebeneffekt in vielen Fällen: Das Dahinterliegende wird elegant verhüllt, und in Idealfall erhält der Ort ein neues, besseres Gesicht. Aber auch für das Davorgehängte gilt letztendlich: Ein zweidimensionales Abbild kann ein dreidimensionales Bauwerk nicht ersetzen, auch wenn auf dem Motiv Architektur zu sehen ist. Oder leben wir bereits in einer (digitalen) Welt, in der die Tiefe für die Sehgewohnheiten keine Bedeutung mehr hat?

Dabei böten sich vielfältige Möglichkeiten, mit derartigen davor gehängten Fassaden auch die dritte Dimension zu bespielen, etwa durch halbtransparente Materialien. Gesehen haben wir das bei der Kita Flugfeld zwischen Böblingen und Sindelfingen, erdacht von (se)arch Architekten aus dem unweit entfernten Stuttgart. Zum Einsatz kommt hier das Textil «Stamisol FT» des französischen Herstellers Serge Ferrari, hergestellt in dessen bekannter Fertigungstechnologie «Précontraint». Dabei wird das Gewebe während des Beschichtungsprozesses von allen Seiten vorgespannt, was ihm eine hohe Dimensionsstabilität und Festigkeit verleiht. Das ist praktisch für die Montage und später für die Wartung, denn das Gewebe wirft während des Einbaus keine Falten und muss hinterher so gut wie nie nachgespannt werden. Stamisol besitzt eine Transparenz mit einem Öffnungskoeffizienten von 28 % und kann per Digitaldruck (und zusätzlichem UV-Schutzlack) mit individuellen Motiven versehen werden. Das alles mit einer Garantie von 10 Jahren.
Hinter dem Motiv der Pusteblume schimmert das eigentliche Gebäude durch das Fassadenkleid hindurch. (Foto: Zooey Braun) 
Die «Kita Flugfeld» ist – wie der Name schon vermuten lässt – auf dem ehemaligen Flugfeld zwischen Böblingen und Sindelfingen erbaut, wo seit einiger Zeit ein neues Stadtquartier mit Mischnutzung aus Produktion, Dienstleistung, Forschung, Bildung und Wohnen entsteht. Das Gebiet rund um die ehemalige Landebahn wird dabei zur öffentlichen Parklandschaft umgestaltet, an die das Stadtteilzentrum mit Kita jetzt angrenzt. Der Entwurf setzt sich aus einem Kubus mit Versammlungsraum und Kita sowie und einem Geviert zusammen, das den Spielhof für die Kinder sicher umschliesst. In jedem der drei Obergeschosse finden zwei Gruppen Platz, die einen gemeinsamen Spielflur haben. Umschlossen werden die Kita-Geschosse – die übrigens mit einem klassischen WDVS versehen sind – von dem Gewebestoff Stamisol als «Screen», der gleich mehrere Funktionen übernimmt: Er wirkt durch sein Erscheinungsbild identitätsstiftend für das Quartier, er schützt vor sommerlicher Überhitzung, er reduziert die Einsehbarkeit von aussen bei voller Transparenz von innen und er fasst den mit vielen Öffnungen, Terrassen und Fluchttreppen durchsetzten Baukörper zu einer städtebaulich prägenden Grossform zusammen. Die Halbtransparenz des Gewebes verleiht diesem Kubus ausserdem eine verborgen spürbare Dreidimensionalität, die dem Kubus bei Dämmerung und erleuchteten Innenräumen ein zusätzliches Gesicht verleiht. Zentrales Sujet des Fassadenkleides ist übrigens die Pusteblume, als spielerische Verbindung der Themen Kind und Flugfeld. Und sollte dieses Motiv in 10 Jahren nicht mehr dem vorherrschenden Geschmack entsprechen, erhält das Gebäude einfach ein neues, dann hochmodernes Kleid. Das alte wird von Serge Ferrari dank der firmeneigenen Recyclingtechnologie Texyloop wieder zurückgenommen und komplett wiederverwertet. Wir sind also gespannt, wie die Kita Flugfeld im Jahr 2024 aussehen wird. tg
Eine Treppe im aussenliegenden Treppenhaus führt vom umschlossenen Spielhof zu den Kita-Geschossen. (Foto: Zooey Braun)  
Jedes Geschoss bietet Platz für zwei Gruppen mit gemeinsamem Spielflur. (Foto: Zooey Braun) 
Die Gruppenräume haben immer ein grosses Fenster, für das der Screen (natürlich) ausgeschnitten wurde. (Foto: Zooey Braun) 
Grundriss 1. Obergeschoss (2. und 3. Obergeschoss ähnlich) 
Grundriss Erdgeschoss 
Aufbau und Schnitt 
Das bei der Kita Flugfeld verwendete Stamisol FT 381 hat ein Gewicht von 550 g/m² und eine Dicke von 0,95 mm. Die Brandklasse ist B1 (DIN 4102-1). (Bild: Serge Ferrari) 
Montage der Textilfassade in Zeitraffer. (Dauer: 2:41 min)

Eine einfach zu montierende und gleichmässige Spannung grossflächiger Gewebeflächen ermöglicht die verwendete Profiltechnologie FACID 65. (Systembild: facid.eu) 
Detail Vertikalschnitt Fenster Gruppenraum 
Ein Stahlrahmen dient als Halterung für die Textilfassade und überbrückt gleichzeitig die offenen Bereiche des Baukörpers. (Foto: (se)arch Architekten) 
Bei Dämmerung (und eingeschaltetem Licht) gibt das textile Kleid die wahre Gestalt des Kubus frei. (Foto: Zooey Braun) 
Projekt
Kita Flugfeld
Böblingen-Sindelfingen, D

Hersteller
Serge Ferrari
La Tour du Pin, F

Kompetenz
Textilfassade Stamisol FT

Architekt
(se)arch Freie Architekten BDA
Stuttgart, D

Projektleitung
Boris Berger, Mitarbeiter Thomas Wecke

Bauherr
Zweckverband Flugfeld Böblingen/Sindelfingen
Böblingen, D

Nutzer
educcare Bildungskindertagesstätten gemGmbH
Köln, D

Fassadenbau
HVS GmbH
Kleve, D

Tragwerksplanung
Pfefferkorn Ingenieure, Beratende Ingenieure VBI
Stuttgart, D

Bauleitung
dk architekten
Stuttgart, D

Elektroplaner
IMS Ingenieurgesellschaft Mück & Schaber GmbH
Holzgerlingen, D

HLS-Planung, Bauphysik
eböck Planung und Entwicklung Gesellschaft mbH
Tübingen, D

Landschaftsarchitekt
faktorgruen
Freiburg, D

Fertigstellung
2013

Fotografie
Zooey Braun
Serge Ferrari
(se)arch Architekten


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