Neue Begriffe, neue Räume?

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ub
Pubblicato il
mag 11, 2011

Begriffskreationen sind nicht immer mit neuen Ideen verknüpft und sorgen ausserdem oft für Verwirrung, wenn ihre Inhalte verschwommen bleiben – und die Verwirrung prägt dann gar nicht selten auch die Debatten. Ursula Baus wirft einen Blick auf Begriffsbildung und -gebrauch und erläutert deren Bedeutung für die Architekten-Praxis.
 
Pluralität und Anarchisches
In seinem 1996 erschienen Buch Der Raum überschrieb der in München lehrende Architekturtheoretiker Franz Xaver Baier nicht weniger als 42 Kapitel mit 42 Raumbegriffen: Der geometrische, reduzierte, gesteuerte, panische Raum – um nur vier von ihnen zu nennen. Inzwischen gibt es selbstverständlich weitere Begriffe zum Raum, mit denen wir in allerlei Zusammenhängen konfrontiert werden: Stephan Günzel strukturierte sein 2010 erschienenes interdisziplinäres Handbuch Raum mit 14 Raumbegriffen – seine Räume sind historisch, politisch, ökonomisch, postkolonial, kognitiv, poetisch, epistemisch usw. Nur wenige Begriffe taugen dafür, eine architekturtheoretische Debatte zu initiieren oder zu befeuern. Zum Glück, denn die Lage würde noch unübersichtlicher als sie ohnehin ist. In anderen Disziplinen ist es nicht anders. Soziologen sprechen zum Beispiel gern vom Milieu; unlängst veröffentlichte das Sinus-Institut eine Studie zu deutschen Sozialmilieus, die nicht mehr genau genug mit arm oder reich, links oder rechts beschrieben werden können. Sie seien vielmehr konservativ-etabliert, liberal-intellektuell, performativ, expeditiv, bürgerlich mittig, adaptiv-pragmatisch, sozialökologisch, traditionell, prekär, hedonistisch zu nennen. In dieser Liste fällt der Begriff «prekär» auf, der in den letzten Jahren erhebliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Aber nicht jeder Milieubegriff löst eine Debatte aus – und genau so ist es in der Architekturtheorie. Die Pluralität, zu der wir uns in einer offenen, demokratischen Gesellschaft gern bekennen, fordert zur kontinuierlichen, kritischen Auseinandersetzung mit ihren Bestandteilen heraus – uns ginge ansonsten der sichere Bezug zum Grundwissen verloren, das uns in die Lage versetzt, munter und ertragreich zu kommunizieren.
 
Konjunktur des Raums
Der «spatial turn» lässt drastisch erkennen, wie eigentlich raumferne Disziplinen manche Raumbegriffe usurpieren oder mit Aspekten des Raumes fremdgehen. Warum auch nicht? Raumrelevante Begriffe eignen sich nun mal hervorragend dafür, komplexe Sachverhalte in unterschiedlichen Disziplinen entweder zu erklären, auf den Raum zu beziehen oder sie in räumlichen Analogien anschaulich zu machen. Wildern also Soziologen, Philosophen oder Politiker im Begriffsrepertoire von Architekten und Stadtplanern, führt dies zu manchmal merkwürdigen, manchmal bemerkenswerten, charmanten Bedeutungsverschiebungen. Umgekehrt entlehnen Architekten und Architekturtheoretiker ihre sprachlichen Instrumente natürlich auch den Köchen, Musikern, Literaten oder Biologen. Es geht aber nicht um «Wörter», die ausgeliehen werden, sondern um Inhalte und Bedeutungen, die sich für den Transfer mehr oder weniger gut eignen.
Architekten sind also gut beraten, über die Bedeutung, Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Begriffen Bescheid zu wissen, die im Zusammenhang mit Architektur und Stadtplanung über das Alltagspragmatische hinausgehen und bisweilen in halbwegs gebildeten Gesellschaftskreisen bekannter sind als in der Architektenschaft. Öffentlich und privat, städtisch und ländlich, offen und geschlossen, fliessend, grosszügig – häufig ist das Repertoire, mit dem ein praktizierender Architekt seinen Denk- und Kommunikationsalltag bestreitet, doch recht schütter. Wohl registriert er, wenn mal wieder eine neue Begriffskreation durch die Medien wie eine Sau durchs Dorf gejagt und mit dem Schlachtruf «Paradigmenwechsel» angekündigt wird. «Hybridraum» war so etwas, was viele Architekten faszinierte, ohne zu wissen, was es ist. Verfügte ein Gebäude über eine gewisse Funktionsflexibilität, war's auf einmal ein «Hybrid». En vogue sind auch elastische und dynamische Räume – kaum, dass sich in einem Gebäude etwas bewegen kann, mausert es sich zum dynamischen Raum. Nicht nur unter Architekten der Generation Praktikum wird es ausserdem üblich, rasch mal ins Englische zu wechseln. Wenn dann zum Beispiel «offene Räume» zu bieder klingt, heisst es: «... you know, it's some kind of a very special open space».
 
Theoriesprachengaga
Bekennen wir: Ein solides Wissen um Herkunft, Bedeutung und Wirkungsgeschichte von Begriffen (und Themen) zu Architektur und Stadtplanung ist in der Zunft nicht sehr verbreitet. Ein gerüttelt Mass Schuld tragen daran aber auch die Theoretiker selbst, die sich allzu oft einer Sprache befleissigen, die schaudern lässt. Man kann das Theoriesprachengaga nicht oft genug beklagen: «Der Wechsel der Sichtweise hin zu den allen digitalen Entwurfsprozessen zugrunde liegenden algorithmischen «Tiefenstrukturen» ist der Kern eines Paradigmenwechsels. (...) Die im Städtebau wie im einzelnen Bauwerk dank der Parametrisierung sich öffnenden Möglichkeitsräume auszufüllen ist dabei ein jenseits des technischen Expertentums auszuhandelndes offenes Problem der digitalen Kultur.» Alles klar?
Unklar werden die Debatten auch, wenn es um Begriffe aus anderen Sprachen und/oder Kulturkreisen geht: «Empire» und «Multitude» waren Schlachtrufe, mit denen Michael Hardt und Antonio Negri die Kulturwissenschaften aufschreckten – Begriffe, die dann auch Architekturtheorie-Kongresse beschäftigten. Da kam es schon mal vor, dass gerade junge Wissenschaftler vor lauter Deleuze und Guattari und Negri und Hardt ihr Sujet aus den Augen verloren. Eingebürgert hat sich die Redeform «Mit Deleuze können wir sagen, dass...». Das Meiste kann man aber auch ohne Deleuze sagen.
Die Unsicherheit in Argumentationsfolgen lässt sich an einer anderen Formulierungsweise erkennen: Heute darf man keine Fragen mehr stellen, sondern muss «Fragestellungen» vortragen. Generell gilt jedoch: Je komplizierter ein Sachverhalt oder eine Gedankenfolge sind, umso intensiver muss nach einer einfachen, unmissverständlichen Formulierung gesucht werden. Ein Wissenschaftsjournalist der FAZ beklagte vor kurzem vollkommen zu Recht, dass gerade in den theoretischen Fächern verschraubt und kompliziert geredet und geschrieben werde, um nicht verstanden und also nicht kritisiert zu werden. In loser Folge möchten wir deswegen ab 2011 Begriffe aus der Architektur- und Städtebautheorie erläutern und kommentieren. In der stillen Hoffnung, dass Talleyrand mit der ihm zugeschriebenen Äusserung «Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen» wenig Recht behält.  ub
Franz Xaver Baier: Der Raum. Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln 1996

Stephan Günzel (Hrsg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010

Ulf Heuner (Hrsg.): Klassische Texte zum Raum, Berlin 2006

Luise King (Hrsg): Architektur & Theorie. Produktion und Theorie, Hamburg 2009


Stets zu empfehlen: Klassiker wie Max Jammer, Otto Friedrich Bollnow, Alexander Gosztonyi, Alexander Koyré, Elisabeth Ströker