Zwischen Notlage und Chance

Elias Baumgarten
10. Dezember 2020
Illustration: World-Architects.com


Elias Baumgarten: Zwar wurde das Thema zuletzt etwas in den Hintergrund gedrängt, dennoch findet der Klimawandel politisch und gesellschaftlich immer mehr Beachtung. Das treibt schon mal seltsame Blüten, so wurde zum Beispiel an der letzten Swissbau nahezu jedes Produkt als besonders klimafreundlich angepriesen. Bei meiner Arbeit begegnen mir sowohl Projekte, die sehr progressiv sind, als auch solche, die klimapolitisch wenig zeitgemäss scheinen. Ihr engagiert euch an vorderster Front für eine zukunftsfähige Baukultur. Wie weit sind wir auf dem Weg zu einem weitsichtigeren, verantwortungsvolleren Bauen vorangekommen?

Martin Haas: Vor 15 Jahren wurde begonnen, energieeffizient zu bauen. Heute sind energetisch optimierte Gebäude das neue Normal. Aber zu einer anderen Art von Baukultur haben sie nicht beigetragen. Optisch, inhaltlich und funktional hat sich kaum etwas getan. Wir müssen einsehen, dass energieeffiziente Gebäude klimapolitisch wenig Einfluss haben, weil ihre positiven Effekte durch den aktuellen Bauboom aufgefressen werden. 
In Deutschland quantifizieren wir beim Energieverbrauch noch immer, statt zu qualifizieren. Aber das energieeffizienteste Gebäude nutzt wenig, wenn nur drei Personen darin leben. Es ist an der Zeit, den nächsten Schritt zu gehen und Nachhaltigkeit ganzheitlich zu denken. Dass die Mehrheit von uns das noch nicht tut, sehe ich bei meiner Arbeit für die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB). Viele von uns fokussieren noch immer auf Energieeffizienz. Wir sollten uns fragen: Wie erreichen wir eine hohe Ausnutzung unserer Bauten rund um die Uhr? Sind die typologischen Unterscheidungen des 20. Jahrhunderts noch zeitgemäss? Wie ist es um die Ökobilanz unserer Gebäude über ihren ganzen Lebenszyklus hinweg bestellt – inklusive Bau, Abriss und eingebundener Energie? Wir müssen eine Grundsatzdiskussion über das Baurecht führen, über das Haftungswesen, die Nutzung, die Eigentumsverhältnisse und die Verantwortlichkeiten. Denn an all dem scheitern ganzheitliche Lösungen heute noch.

Friederike Kluge: Mit dieser Position können wir uns sehr identifizieren! Wir sind interessiert an Projekten, die es schaffen, Nachhaltigkeit als grundlegendes architektonisches Konzept zu denken. Nachhaltigkeit sollte nicht im Nachhinein von einem Fachplaner über das Projekt gestülpt werden. Das funktioniert nicht! Wir möchten uns von Klima- und Biodiversitätsfragen inspirieren lassen und sind interessiert am Umbauen, an der Nutzungsoptimierung und der Entwicklung von kleinen, effizienten Grundrissen. Unsere Generation muss umdenken, denn wir wissen, dass die Zeit der Tabula-Rasa-Konzepte vorbei ist. Die Baukultur ändert sich. Wir sind auf der Suche nach neuen, klima- und biodiversitätsfördernden Lösungen. Doch obwohl wir schon viel gelernt haben, fühlen wir uns immer noch erst am Anfang unserer Auseinandersetzung mit dem Thema. Das ist bitter, denn die Zeit drängt. 
Aber um deine Frage aufzugreifen, Elias: Allgemein ist weiter viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Das Wissen um ökologisch verantwortungsvolles Bauen ist grundsätzlich da, aber in der Architekturszene noch zu wenig vorhanden beziehungsweise sehr ungleich verteilt. Zu lange haben viele von uns den Wissenschaftler*innen nicht ausreichend zugehört oder die eigenen Handlungsmöglichkeiten und die eigene Verantwortung nicht gesehen. Wir waren zu beschäftigt mit anderen Dingen. Vielsagend finde ich den Blick auf Architekturjournalismus, -vermittlung und auch -preise: Manche Artikel, Ausstellungen und Auszeichnungen zeugen von profundem Wissen, doch zu viele sind nach wie vor unkritisch oder betreiben gar Greenwashing – ohne es überhaupt zu merken. Betrachtet man Projekte aus dem Blickwinkel der Zukunftsfähigkeit, werden oft höchst fragwürdige Beispiele beklatscht. Wir engagieren uns daher mit Gleichgesinnten für das Projekt Countdown 2030, um Anstösse zu geben, Notwendigkeiten aufzuzeigen und vor allem Wissen zu teilen und zugänglich zu machen. Wir möchten uns dabei nicht mit erhobenem Zeigefinger hinstellen, sondern eher motivieren, die Möglichkeiten zu sehen, die sich eröffnen, wenn man umdenkt. Wir leben in einer spannenden Zeit, denn wir müssen und dürfen Architektur und Lebensraum neu denken. 

Verena Konrad: Danke für die Kritik, Friederike, die ihr schon bei der Gründung von Countdown 2030 sehr pointiert vorgebracht habt. Elias, darauf sollten wir gleich noch antworten. Zuerst aber möchte ich auf deine Eingangsfrage eingehen: In Vorarlberg hatten wir in den 1960er-Jahren eine sehr aktive Ökologiebewegung, die bis in die 1980er-Jahre fortgewirkt hat. Doch in den 1990er- und 2000er-Jahren ist das Problembewusstsein deutlich zurückgegangen. Wieso? Ich würde sagen, aufgrund der Wachstumsorientierung in der Baubranche insgesamt. Wie in allen Lebensbereichen scheinen ökonomische und ökologische Erwägungen im Widerstreit zu liegen. Heute ist das Interesse an klimaschonendem Bauen bei uns wieder gross – aber oft leider auch sehr zugespitzt auf Details. Als Architekturvermittlerin möchte ich auf einen ganzheitlichen Ansatz hinwirken. Neben meiner Arbeit am Vorarlberger Architektur Institut (vai) bin ich auch im Vorstand des Energieinstituts (EIV). Mir ist es ein Anliegen, das grosse Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren und unterschiedliche Zugänge wie Lösungsansätze zu diskutieren. Wenn wir Exkursionen durchführen, besuchen wir zum Beispiel den Holzmodulbauer Cree, eine Tochter der Rhomberg Bau, genauso wie das bekannte Projekt «2226» von Baumschlager Eberle gleich nebenan, das ohne Heizung und Kühlung auskommt. Es gibt viele Wege, ein Ziel zu fokussieren.

Alma Maki, Tennis Club Old Boys Basel, Beitrag zum geladenen Wettbewerb, 2018 (Visualisierung: OS Images)
Alma Maki, Umbau Wohnhaus, Lörrach, 2018 (Foto: Alma Maki)
Alma Maki, Ateliers im Hinterhof, Basel, 2019 (Foto: Alma Maki)
Ateliers im Hinterhof (Foto: Alma Maki)

EB: Der Klimawandel hat über die letzten anderthalb Jahre im politischen Diskurs enorm an Bedeutung gewonnen, die Ökologiebewegung erhält gerade bei der Jugend massiv Zuspruch. Immer mehr Menschen setzen sich mit dem Thema auseinander – auch wenn ich bezweifle, dass sie schon bereit sind, ihren Lebensstil grundsätzlich zu ändern und beispielsweise auf Auto, Smartphone, immer neue Kleider oder Urlaubsreisen zu verzichten. Hilft diese gewachsene Aufmerksamkeit nicht trotzdem, eine zukunftsfähigere Architektur zu entwickeln und umzusetzen? Matthias Hein hat zum Beispiel an unserem zweiten D-A-CH-Gespräch gesagt, es gebe mittlerweile Bauträger, die Klima-Architektur als gutes Verkaufsargument betrachten. Auch Hermann Kaufmann sagte mir unlängst, seitens der Kapitalgeber bestünde ein wachsendes Interesse an zukunftsfähigen Gebäuden.

MH: Ganz einfach: Solang man durch pures Bauen ohne Nachdenken Geld verdienen kann, wird sich nichts ändern. 1998 haben wir für die Norddeutsche Landesbank das erste Gebäude mit bauteilaktivierten Decken realisiert. Die späten 1990er-Jahre waren eine Zeit der Krise, wir hatten eine Rezession in Deutschland. Firmen waren damals sehr offen für neue Lösungen – Not macht eben erfinderisch. In den letzten Jahren aber erleben wir einen Boom. Bei zwei Holzbauprojekten haben wir zuletzt keine passenden Firmen mehr gefunden, die mit uns neue Lösungen entwickeln wollten. Mehraufwand ist in Phasen der Hochkonjunktur nicht attraktiv. 
Bei der DGNB sehe ich, dass eigentlich grosses Potenzial vorhanden wäre: In Deutschland haben wir viele Architekt*innen, die von heute auf morgen ein klimaneutrales Haus planen könnten. Doch sie fangen mit ihrem Wissen wenig an, und auch die Nachfrage ist gering. Wir müssen unbedingt in die Politik! Wir befinden uns in einem Epochenwandel. Die klassische Industriekultur geht zu Ende, und Nachhaltigkeit ist nichts anderes als ein trauriger Begriff für die Suche der Gesellschaft nach einer neuen Ethik. Das geht mir in der Architekturdebatte völlig verloren. Wir haben jetzt die einmalige Chance, ähnlich wie anfangs des 20. Jahrhunderts einem neuen Zeitgeist einen architektonischen Stempel aufzudrücken. Aber wir haben keine Antworten auf aktuelle Gesellschaftsfragen. Ich sehe keine zukunftsweisenden Konzepte. Stattdessen passen wir überkommene Architekturformen auf zeitgenössische Technologiefragen an. Im Grunde leben wir immer noch in der Moderne. Nachhaltigkeit ist kein planerisches, kein energetisches und noch nicht einmal ein ökologisches Thema, sondern ein sozial-ethisches. Ich bin dafür, dass wir unseren Demokratiebegriff auf die Zukunft erweitern: Wir sollten uns endlich fragen, ob wir unser Handeln künftigen Generationen zumuten können.

Meik Rehrmann: Das ist alles sehr richtig, setzt aber voraus, dass ein tiefgreifendes Umdenken erfolgt. Unsere Art zu wirtschaften ist ganz und gar auf Wachstum ausgerichtet. Firmen möchten so viel wie möglich produzieren und verkaufen. Welches Interesse sollte die Wirtschaft daran haben, einfacher und überhaupt so wenig wie möglich zu bauen?

MH: Du hast recht, unser Wirtschaftssystem ist der grösste Gegner einer zukunftsfähigen Baukultur. Trotzdem bin ich optimistisch. Neulich war ich in Brüssel an einem Treffen grosser Rückversicherer. Ich war verblüfft ob der Diskussionen, die dort geführt wurden: Irgendwann werde jemand, hiess es, nach der Verantwortung für die negativen Folgen des Klimawandels fragen; es werde der Moment kommen, da zum Beispiel die Niederländer wissen wollen, wer Schuld daran trägt, dass sie immer höhere Deiche bauen müssen. Darum müsse man sich, so die nüchterne Schlussfolgerung, sofort aus allen CO2-emittierenden Wirtschaftsbereichen zurückziehen. Und ihr wisst alle, wer für 50 Prozent des CO2-Ausstosses verantwortlich ist – unsere Bauindustrie, die nebenbei auch noch die Hälfte des Abfalls produziert.

VK: Ich bin an diesem Punkt eher pessimistisch. Selbst Firmen, die Innovationsmanagement betreiben und gesellschaftliche Entwicklungen genau beobachten, sind am Ende doch an ein Produkt gebunden, das sie verkaufen möchten. Ich bezweifle, dass unbequeme, nicht marktkonforme Ansätze dabei je einen Platz haben werden.
Genuine Architektur hingegen, die sich mit gesellschaftlichen und sozialen Fragestellungen auseinandersetzt, ist in einem bedrohten Stadium. Dieses Berufsbild verändert sich gerade wesentlich. Die Bauindustrie greift immer mehr auf digitale Werkzeuge zurück. Die Planung wird zu einem integralen Bestandteil und Architektur in den Augen mancher überflüssig.  

MH: Und deswegen sind unsere wichtigsten Verbündeten die Bauherr*innen. Sie müssen wir überzeugen. Durch einfaches Bauen können sie Geld sparen. Doch wir diskutieren über formale Fragen, über eingelegte Sockelleisten und Schattenfugen. Die sozialen Aspekte des Architektenberufs vergessen wir schon viel zu lange. Wir sind Gestalter menschlicher Lebensfelder und nicht Schichter von Baumaterialien!

Die Architekturtage sind mit circa 500 Veranstaltungen bei freiem Eintritt die grösste biennale Plattform für Architektur- und Baukulturvermittlung in Österreich. Das Vorarlberger Architektur Institut beteiligt sich mit vielen Angeboten. (Foto: Darko Todorovic)
 
Die gelben «Stadt Stühle» des Vorarlberger Architektur Instituts wurden von Kindern und Jugendlichen während der Architekturtage 2019 angefertigt. (Foto: Darko Todorovic)
Foto: Darko Todorovic
Exkursion im Rahmen der Architekturtage 2016 (Foto: Darko Todorovic)

MR: Darüber diskutieren wir oft im Büro. Leider sollen wir Architekt*innen immer mehr Aufgaben übernehmen, es kommen immer neue Anforderungen von allen Seiten hinzu, für die uns niemand mehr Bearbeitungszeit einräumt, geschweige denn unseren Mehraufwand bezahlen möchte. Unsere Kernkompetenz, die Gestaltung von Lebensfeldern, wie du es so schön nennst, leidet darunter. Die strengen Normen und Regeln schränken uns zusätzlich ein. Möchte man unkonventionelle Lösungen entwickeln, sollte man eigentlich gleich einen Anwalt fest anstellen. Das ist ziemlich ungesund: Man muss Risiken eingehen, viel Zeit investieren und ist dann doch unzufrieden, weil man permanent eingebremst wird und so der eigenen Verantwortung und den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Du hast von einer grossen Chance gesprochen, Martin, und das stimmt; aber sie wird vielleicht zu selten ergriffen, weil sie auch einen enormen Druck erzeugt.

FK: Gerade der Zeitmangel, den Meik anspricht, ist ein Riesenproblem für das nachhaltige Bauen. Die Arbeitszeit ist zu teuer, bei Unternehmer*innen wie Architekt*innen. Und es bleiben zu wenige Freiräume zum Diskutieren, für die Weiterbildung und, um Dinge neu zu denken. Es gibt eine Kluft zwischen Forscher*innen, die Bücher und Artikel schreiben, und jenen, die bauen und kaum Zeit finden, diese zu lesen.

VK: Das führt mich zu einem Interview, Elias, das du vor einigen Wochen mit Wolf D. Prix geführt hast. Er hat darin gesagt, man solle Theoretiker und Historikerinnen – also Menschen wie mich – von den Architekturschulen verbannen. Das hat mich sehr geärgert! In Zeiten wie diesen ist Interdisziplinarität besonders wichtig – gerade auch in der Lehre. Architekt*innen können nicht alle Fragestellungen allein auf sich gestellt lösen – auch wenn manche das zu glauben scheinen. Es würde ihnen helfen, wenn andere Expert*innen ihr Wissen teilen und leicht zugänglich machen.

EB: Es war eine radikale Aussage, die ich nicht teile. Aber ihr liegt eine Kritik zugrunde, die man ernst nehmen sollte und die ich letzthin häufig gehört habe, etwa in Gesprächen mit der Architektin Astrid Staufer oder Werner Binotto, St. Gallens ehemaligem Kantonsbaumeister, aber auch gerade von Martin: Unsere Szene schaut viel nach hinten und zu wenig nach vorn. Zu wenige befassen sich mit aktuellen Fragen wie dem Klimawandel, der Digitalisierung oder den tiefgreifenden geo- und machtpolitischen Veränderungen, die gerade ablaufen. 

FK: Das stimmt, es gibt meines Erachtens zu wenige Architekt*innen, die über die Zukunft sprechen. Unsere Disziplin ist sehr in der Vergangenheit verhaftet, deshalb versuche ich, in der Lehre vor allem Zukunftsthemen zu adressieren und mit den Studierenden Visionen zu entwickeln. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Welt so rasant verändert – da kann es doch nicht sein, dass wir nicht auch neue Antworten finden müssen. Allerdings wäre es in der Tat geradezu fatal, da bin ich bei Verena, auf den Austausch mit anderen Expert*innen zu verzichten. Im Gegenteil: Es gibt zu wenig davon. Die Aufgaben der Zukunft können wir nur gemeinsam lösen.

haascookzemmrich STUDIO2050, Alnatura Arbeitswelt, Darmstadt, 2019 (Foto: Roland Halbe)
Alnatura Arbeitswelt (Foto: Roland Halbe)
haascookzemmrich STUDIO2050, Rapunzel Besucherzentrum, Legau, im Bau (Modellfoto: haascookzemmrich STUDIO2050)
haascookzemmrich STUDIO2050, UmweltBank, Nürnberg, Wettbewerbsbeitrag, 2020 (Visualisierung: Expressiv)

MH: Wir haben uns in Wahrheit viel zu sehr in unsere Filterblase zurückgezogen. Wir diskutieren mit uns über uns. Wir verstehen uns als künstlerische Elite und haben verlernt, unsere Anliegen in gesellschaftlich relevanter Weise zu besprechen. Meik hat die Normierung erwähnt, die Regeln, Gesetze und Haftungsfragen, die zukunftsorientierten Konzepten leider oft entgegenstehen. Dieses Thema ist ein gutes Beispiel: Ich war eben in Berlin und habe das Deutsche Institut für Normung (DIN) besucht. Diese Institution, vor der wir ach so viel Respekt haben, ist in Wahrheit bloss ein Verein. Wir wären stark genug, um auf eine Veränderung der DIN-Normen hinzuwirken oder neue anzustossen. Aber wir klagen lieber untereinander und unternehmen wenig bis gar nichts. Mich ärgert, dass wir nicht nach aussen zeigen, was geändert werden muss, damit wir unsere Arbeit machen können. Vielleicht wäre das auch mal ein Thema für die Fachpresse …

VK: Das ist ein Steilpass, um auf deine Kritik an Architekturjournalismus und -vermittlung zurückzukommen, Friederike. Ich bin sehr einverstanden, dass wir qualitätsvolle Beiträge brauchen, und sehe auch, dass es daran mangelt. Aber wenn man eine rege Debatte wünscht, muss man unbequeme Meinungen zulassen. Tatsächlich jedoch verunmöglichen viele Büros Kritik heute schon im Halbsatz. Das ist richtig mühsam! Seit zehn Jahren schreiben wir vom vai im Rahmen der wöchentlichen Coverserie «Leben & Wohnen» in der Tageszeitung Vorarlberger Nachrichten über verschiedenste Bauten und besprechen die Entstehungsgeschichten dahinter. Obwohl es sich um Best-Practice-Beispiele handelt, die entsprechend wohlwollend dargestellt werden, wird ständig versucht, Einfluss zu nehmen und zu kontrollieren. Die PR-Verantwortlichen der Büros bestimmen bei der Berichterstattung längst mit. Das ist keine gute Entwicklung und kontraproduktiv, wenn es um Baukultur und nicht nur um ein einzelnes Bauwerk geht.
Und dann möchte ich auch zur Sprache bringen, unter welchem Druck und welch schlechten Bedingungen heute über Architektur geschrieben wird. Viele Redaktor*innen arbeiten zu Konditionen, für die sollte man nicht einmal einen Studentenjob machen. Für einen Artikel in einer renommierten deutschen oder österreichischen Tageszeitung bekommt man 150 bis 200 Euro. Hinter einem fundierten, gut recherchierten Beitrag stecken aber viele, viele Arbeitsstunden. Wie soll unter solchen Umständen gute journalistische Arbeit möglich sein? 

MH: Aber sind wir denn nicht eine Gruppe, die noch Zeitschriften und Bücher kauft und liest?

VK: Anspruch und Wirklichkeit klaffen da leider weit auseinander. Ich merke bei meiner Arbeit regelmässig, dass selbst Expert*innen zumeist nur Überschriften lesen und Bilder anschauen. Oft werden Texte schnell kritisiert, ohne sie überhaupt wirklich gelesen zu haben.
Und dass Heftverkäufe oder Museumsbesuche unsere Arbeit finanzieren, ist eine romantische Vorstellung. In Wahrheit bringen Anzeigenkunden und Sponsoren den Löwenanteil des Kapitals ein. Das hat vielfach Auswirkungen auf die inhaltliche Setzung – nicht nur im Architekturjournalismus.

EB: Du sprichst mir aus der Seele, Verena. Leider gewinne ich immer mehr den Eindruck, dass ein ehrliches Interesse an einem fruchtbaren Austausch und dem Einblick in andere Denkwelten nur bei wenigen besteht. Die Diskussionskultur kommt uns indes zusehends abhanden. Das dürfte auch daran liegen, dass die sozialen Medien zum vielleicht beliebtesten Austragungsort für Kontroversen aufgestiegen sind. Ohne Bezug zum Gegenüber und geschützt hinter dem Bildschirm bleiben der respektvolle Umgang miteinander und die Wertschätzung für die Diskussionspartner*innen auf der Strecke. Schnell, unüberlegt und ungefiltert, dafür aber umso aggressiver wird auf Bilder, Titel und Personen, die sich mit einer anderen Meinung zu Wort melden, reagiert. 

MR: Das sind interessante, aber auch deprimierende Einblicke. Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, zu einer konstruktiven Debatte mit grosser Beteiligung zurückzufinden. Ein offenes, reges und kontroverses Gespräch wäre gerade jetzt wichtig, da wir im Zeichen der Klima- und Biodiversitätskrise in Bedrängnis geraten und immer dringender Antworten finden müssen. Aber die Arbeit von Countdown 2030 stimmt mich positiv. Das Diskussionsklima scheint mir sehr offen und inhaltsbasiert, und der Zulauf ist erstaunlich gross. Von vielen Seiten gibt es Interesse an diesem Diskurs. 

Verena Konrad ist Kunsthistorikerin und leitet seit 2013 das Vorarlberger Architektur Institut. 2018 war sie Kommissärin und Kuratorin des Österreichischen Pavillons an der 16. Architekturbiennale in Venedig. Sie ist Mitglied im Universitätsrat der Universität Liechtenstein und im Kuratorium der IBA Heidelberg.
 
 
 
Friederike Kluge studierte Architektur und Angewandte Kulturwissenschaften an der Universität Karlsruhe, in Kanada und Chile. Von 2007 bis 2012 war sie für Buchner Bründler Architekten tätig. 2013 gründete sie zusammen mit Meik Rehrmann das Architekturbüro Alma Maki in Basel. Von 2013 bis 2019 arbeitete sie ausserdem bei Annette Spiro an der ETH Zürich. Seit 2019 ist sie Professorin für Baukonstruktion und Entwerfen an der HTWG Konstanz. 
 
Meik Rehrmann studierte Architektur an der Universität Karlsruhe. Er ist ausgebildeter Schreiner und war zwei Jahre als Restaurator tätig. Er arbeitete in Deutschland und Australien, von 2007 bis 2012 war er bei Morger+Dettli Architekten in Basel beschäftigt. Gemeinsam mit Friederike Kluge führt er das Büro Alma Maki.
 
 
 
Martin Haas hat in Stuttgart und London Architektur studiert. Von 1995 bis 2012 arbeitete er für Behnisch Architekten. Er betreute Projekten in Dubai, Italien und Frankreich, bevor er 2005 Partner wurde. Er war Co-Kurator der Wanderausstellung «Ökologie, Design, Synergie». 2012 gründete er zusammen mit David Cook und Stephan Zemmrich das Büro haascookzemmrich STUDIO2050 in Stuttgart. Als Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen ist er Mitglied des Präsidiums und seit 2013 deren Vizepräsident. Seit 2008 ist er regelmässig Dozent an verschiedenen Universitäten, etwa der University of Pennsylvania in Philadelphia, USA, der Università di Sassari in Italien und der Umea in Schweden. Martin Haas ist seit 2017 Mitglied des Gestaltungsbeirats von Karlsruhe und sitzt seit 2020 auch im Gestaltungsbeirat von Offenbach. Ebenfalls seit diesem Jahr ist er ehrenamtliches Mitglied des Konvents der Baukultur.

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