Das allererste Mal

Thomas Geuder
25. März 2014
In rund neun Monaten Bauzeit ist auf 15.000 Quadratmetern vor dem KundenCenter die neue „Ausfahrt“ entstanden. (Foto: Tobias Hein)

Auto ist Emotion, in manchen Fällen sogar schlicht pure Emotion. Das wissen nicht zuletzt die Autobauer, deren Werbung von Anfang an mit der besonderen Verbindung zwischen Mensch und Auto spielte. Seit nunmehr 14 Jahren ist die Autostadt in Wolfsburg (die Gesamtplanung lag bei HENN aus München) Ziel zahlreicher Autofans aus aller Welt, nicht wenige verbinden den Besuch mit der Abholung ihres heiss ersehnten Neuwagens aus den Volkswagenwerken. Neben dem Auslieferungszentrum bieten sich ihnen verschiedene Ausstellungen sowie ein Freizeitpark und Kunstwerke wie etwa dem 15 Meter lange «Dufttunnel» mit über 2000 Blumentöpfen des dänischen Künstlers Olafur Eliassion. Übernachten kann, wer möchte, im Ritz-Carlton, das von der französischen Innenarchitektin Andrée Putman – die Anfang 2013 leider verstarb – eingerichtet wurde. Der Moment des ersten Kontakts mit dem neuen Liebling allerdings ist ein besonderer. Für viele bedeutet ein neues Auto neben der Emotion nämlich auch die Konfrontation mit neuen Technologien, deren Bedienung erst einmal erlernt sein will. Ob Einpark- oder Berganfahrassistent, automatische Distanzregelung oder Müdigkeitserkennung: All das möchte man gerne in ruhiger, fast privater Atmosphäre erkunden, ohne sich gedrängt fühlen zu müssen. Für diesen Moment schufen die Architekten von Graft aus Berlin auf rund 15.000 m² einen Bereich, der Schutz vor Sonne wie Regen bietet, ohne einzuengen. Aus diesen Überlegungen heraus entstand die Idee eines liegenden Blattes, deren organische Form sich schützend über eine Art Parkplatz legt, auf dem die Wagen stehen, die auf ihre Abholung warten. Die umgebende Landschaft wurden von WES-LandschaftsArchitektur geplant.

Für die raffiniert leichte Planung der Konstruktion zeichnet sich das renommierte Schlaich Bergermann und Partner verantwortlich. (Foto: Tobias Hein)

Das Gesamtensemble sollte eine grösstmögliche Leichtigkeit ausstrahlen, was sich zunächst auf die Konstruktion auswirkte: Sie besteht aus einem einzigen, umlaufenden Druckring (ein geschweisstes Hohlkastenprofil), der so geformt ist, dass die später eingespannte Membran eine doppelt gekrümmte, paraboloide Schale ergibt. Der gesamte Ring ist lediglich an zwei Tiefpunkten aufgelagert, die auf pyramidenförmigen Fundamenten mit Pfählen und Zugseil dazwischen gründen. Diese beiden kräftigen Auflager müssen immerhin eine 130 Tonnen schwere Stahlkonstruktion tragen und sind grösstenteils von Erdreich bedeckt, wodurch die Konstruktion auf der Landschaft leicht aufzuliegen scheint. Das eigentliche Dach aber bildet eine 1600 m² grosse PTFE-Membran, die aus rund drei Meter breiten, miteinander verschweissten Streifen vorgefertigt wurde. Bei der Montage vor Ort wurde sie in einem kompletten Stück auf das Seilnetz gelegt und am Druckring sowie punktuell per Klemmteller an den Knotenpunkten des Seilnetzes befestigt. PTFE kennt man auch aus der heimischen Küche: Dort sind die Pfannen damit beschichtet, besser bekannt auch als Teflon. Auch GoreTex ist ein PFTE-Material. Neben der guten Dampfdiffusionsfähigkeit trotz Wasserdichtheit, was zugegeben bei einem solchen Dach keine besondere Rolle spielt, verfügen mit PTFE-Glas beschichtete Glasfasergewebe über sehr gute Selbstreinigungseigenschaften, hohe Lichtdurchlässigkeit, Langlebigkeit, und – nicht unwichtig für einen solchen Ort – es ist nicht brennbar. Die ältesten Projekte des hier eingesetzten Herstellers Taiyo mit PTFE-Membrane sind laut eigener Angabe bereits über 40 Jahre alt und nach wie vor in gutem Zustand. Bei der «Fahrattraktion Ausfahrt» wurde übrigens ein Membran verwendet, der zunächst braun ist, in den ersten Monaten aber durch die Sonneneinstrahlung zum geplanten Cremeweiss aufhellt. Das ist dank des selbstreinigenden Materials keine schwierige Farbe. Und die Konstruktion hilft, dass kein stehendes Wasser auf der Dachfläche entsteht: Der Membran und das Tragwerk sind so geformt, dass Regenwasser immer zu den beiden Auflagern geführt wird, wo es durch seitliche Entwässerungsrohre in das Entwässerungssystem weitergeleitet wird.

Zum Bau der Fahrattraktion wurde eine bereits versiegelte Fläche wieder aufgebrochen und Autostadt-typisch gestaltet. (Foto: Tobias Hein)
Die «Ehrenrunde» ist ein 315 Meter langer Rundweg, auf dem die Kunden ihren Neuwagen nach der sogenannten Erlegnisabholung im KundenCenter testen können. (Foto: Tobias Hein)
Die Grundidee des Entwurfs: Das Dach legt sich leicht wie ein Blatt in die Autostadt-Landschaft. (Foto: Tobias Hein)
Explosionszeichnung der konstruktiven Idee
Die eigentliche Dachhaut besteht aus einer PTFE-Membran. (Foto: Graft)
Die Befestigung des Seilnetzes am Randträger erfolgt mit Seilbeschlägen, die die Stahlseile an aufgeschweisste Laschen verbinden. (Foto: Graft)
Hier sieht man alles, was für Bestandteil der Konstruktion ist: Auflager, Rahmenprofil, Aufhängung des Steilnetzes, Befestigung der Membran und PTFE-Membran. (Foto: Tobias Hein)
Im Inneren des ServicePavillons hält das Verkaufssortiment alles bereit, was zur ersten Reise mit dem neuen Fahrzeug gehört: von Getränkeflaschen über Warnwesten bis hin zur Parkscheibe. (Foto: Tobias Hein)
Bei Dunkelheit erhält das Dach seine Leichtigkeit durch eine unterseitige Beleuchtung. (Foto: Tobias Hein)
Vom Besucherflur aus ist es den Gästen möglich, in die zweigeschossigen Laborbereiche zu blicken. Eine gemeinsam mit dem DLR entwickelte Ausstellung zeigt die Aufgaben des DLR. (Foto: Yohan Zerdoun)
Die drei Labore im Neubau stellen hohen Ansprüche in Sachen Reinraumtechnik, Staubbelastung sowie Expolosionsschutz. (Foto: Yohan Zerdoun)
Hitzeschutzschild, Mondlandschaft und Raumstation: So arbeitet man mit Bildern aus der Raumfahrt. (Foto: Yohan Zerdoun)
Projekt
 
Fahrattraktion «Ausfahrt» in der Autostadt
Wolfsburg, D

Hersteller
Taiyo Europe GmbH
Sauerlach, D

Kompetenz
PTFE-beschichtetes Glasfasergewebe

Architekt
Graft Gesellschaft von Architekten
Berlin, D

Projektteam
Stefanie Götz, Aurelius Weber, Andrea Göldel, Sebastian Massmann, Paulo de Araujo, Tade Godbersen, Berta Sola

Bauherr
Autostadt GmbH
Wolfsburg, D

Tragwerksplanung
schlaich bergermann und partner
Berlin, D

Landschaftsarchitekt
WES – Landschaftsarchitektur
Hamburg, D

Dachtragwerk
Eiffel Deutschland Stahltechnologie GmbH
Hannover, D

Fertigstellung
2013

Fotografie
Tobias Hein
Graft


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