Das Gedankengebäude am See

Manuel Pestalozzi
7. September 2023
C. G. Jung verwirklichte zunächst den turmartigen Bau links, später folgten verschiedene Ergänzungen. Landseitig eingewachsen und ohne Zufahrt ist das Baudenkmal nur vom See aus zur Gänze sichtbar. (Foto: Manuel Pestalozzi)

Carl Gustav Jung (1875–1961) gehört zu den bemerkenswerten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Der Schweizer Psychiater, der in bisweilen engem Kontakt mit Sigmund Freud stand, gilt als Begründer der analytischen Psychologie und hinterliess ein umfangreiches Schriftwerk. Für manche Zeitgenossen war er ein regelrechter Guru: Was C. G. Jung tat und mit welchen Objekten er sich umgab, stiess bei seinen «Jüngern» auf grösstes Interesse. Aber auch seine Kolleg*innen und sogar die Allgemeinheit verfolgten sein Wirken genau. Der einstige Wohnsitz des Psychiaters in Küsnacht, direkt neben dem Strandbad am Zürichsee gelegen, ist heute ein Museum. Die Stiftung C. G. Jung Küsnacht hält dort die Erinnerung an ihn und seine Ehefrau und Mitarbeiterin Emma Jung-Rauschenbach (1882–1955) wach.

Doch was macht Jung gerade auch für Architekt*innen interessant? In Bollingen am Obersee baute er sich selbst einen Rückzugsort. Jung machte die Bedeutung des turmartigen Bauwerks für sein Schaffen aktiv publik. Schliesslich erlangte das Refugium so grosse Bekanntheit, dass der US-amerikanische Philanthrop Paul Mellon und seine Frau ihr Stiftung und ihren Poetik-Preis nach dem Standort des Bauwerks benannten.

Bollingen ist bekannt für den Sandstein, der in der Umgebung abgebaut wird. Er findet sich beispielsweise an vielen repräsentativen Bauten in Zürich. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Stein gewordene Gedanken

Architektonisch wird der Eigenbau Jungs geprägt vom Baumaterial Stein, das in Bollingen reichlich zu finden ist, wird in der Umgebung des Ortes doch seit Jahrhunderten Sandstein abgebaut. Für Jung war die Arbeit mit Stein eine besondere Möglichkeit, seine Gedanken kundzutun. Für das Buch «Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung» erklärte er gegenüber seiner Mitarbeiterin Aniela Jaffé: «Durch die wissenschaftliche Arbeit stellte ich meine Fantasien und die Inhalte des Unbewussten allmählich auf den Boden. Wort und Papier waren mir jedoch nicht real genug; es gehörte noch etwas anderes dazu. Ich musste meine innersten Gedanken und mein eigenes Wissen gewissermassen in Stein zur Darstellung bringen, oder ein Bekenntnis in Stein ablegen.» 

Auch dass er direkt am Wasser bauen wollte, stand für Jung von Anfang an fest. 1922, nach dem Tod seiner Mutter, kaufte er das kleine Grundstück zwischen der Bahnlinie und dem Schilfgürtel des Sees, etwa 800 Meter westlich des Ortskerns von Bollingen. Zunächst, so ist in besagtem Buch zu lesen, diente ihm seine Vorstellung einer «afrikanischen Hütte» als Inspiration – ein einfaches Haus, in dessen Mitte ein Feuer brennt und sich das gesamte Familienleben abspielt.

Dieses Denkmal erinnert in Bollingens Nachbargemeinde Schmerikon an den Verlad der Steine, die bis heute mit sogenannten Ledischiffen über den See transportiert werden. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Wenn Architektur Lebensabschnitten folgt

Jungs Vorstellung von seinem Bauwerk entwickelte sich in der Folge dynamisch. Aus der ursprünglich erträumten Rundhütte wurde ein zweigeschossiger Bau, ein «richtiger Wohnturm», wie Jung selbst meinte. «Das Gefühl der Ruhe und Erneuerung, das sich mir mit dem Turm verband, war von Anfang an sehr stark», ist in seinen «Erinnerungen» weiter zu lesen, «er bedeutete für mich so etwas wie eine mütterliche Stätte». Doch die Zufriedenheit mit dem eigenen Werk hielt nicht lange an: «Allmählich erhielt ich jedoch den Eindruck, dass er noch nicht alles ausdrückte, was zu sagen war, dass noch etwas fehlte.» So kam 1927 der Mittelbau mit einem turmartigen Annex hinzu.

Bald machte sich der Psychiater an die Planung weiterer Bauetappen: «Nach einer gewissen Zeit hatte ich erneut das Gefühl der Unvollständigkeit. Auch in dieser Form schien mir der Bau noch zu primitiv.» So entstand 1931 ein weiterer Ausbau. Diesmal dienten Jung «indische Häuser» als Vorbild, er wünschte sich Räumlichkeiten für die Meditation und für Yogaübungen, in denen er ganz für sich sein konnte. Niemand sonst sollte sie betreten dürfen, den Schlüssel trug Jung stets bei sich. «Es ist ein Winkel des Nachdenkens und der Imaginationen – oft sehr unangenehmer Imaginationen und schwierigsten Denkens, eine Stätte geistiger Konzentration», sagte er Aniela Jaffé.

Es sollten noch zwei weitere Ergänzungen folgen: 1935 entstanden ein Hof und eine Loggia am See. «Damit war eine Vierheit entstanden, vier verschiedene Gebäudeteile, und zwar im Laufe von zwölf Jahren», so Jung. 1955, nach dem Tod seiner Frau, erhöhte er den mittleren Gebäudeteil, der die beiden Türme verbindet, um ein Stockwerk. Seine Erklärung für diesen Schritt war eine psychologische: «Ich entdeckte plötzlich, dass der mittlere Gebäudeteil, der bisher so niedrig und verkrochen zwischen den beiden Türmen lag, sozusagen mich selber oder mein Ich darstellte.» Um das Andenken an seine verstorbene Frau zu ehren, habe er den Mut gefasst, diesen Teil der Anlage umzugestalten.

1950 bestellte Jung einen Würfel aus Stein für sein Anwesen. Er verzierte ihn mit Symbolen und Inschriften. Bis heute rätseln Menschen darüber, was die symbolbeladenen Ornamente aussagen. (Foto: Philipp Roelli via Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)
Ein Bauwerk als Repräsentation des Unbewussten?

Allzu grosse Beachtung im Architekturdiskurs fand der Bau noch nicht. Jedoch publizierte das Verlagshaus Birkhäuser 1999 in der Serie «The Information Technology Revolution in Architecture» einen Aufsatz des italienischen Architektur-Publizisten Luigi Prestinenza Puglisi mit dem Titel «Hyper Architecture. Spaces in the Electronic Age». Er will darlegen, wie sich im Zeitalter der Neuen Medien und des Internets immer deutlicher herausstellt, dass auch unser Raumgefühl einer tiefgreifenden Wandlung unterworfen ist. Neben den Werken bekannter avantgardistischer Künstler wie Boccioni, Duchamp und Kandinsky sowie des Architekten Walter Gropius widmete er sich in diesem Zusammenhang auch dem Architektur entwerfenden Philosophen Ludwig Wittgenstein und eben Jungs Bauwerk in Bollingen. Er nennt es das «innere Teleskop» des Psychiaters. Der Bau sei nicht nur der Raum, in dem Jung bei sich sein konnte, er sei die Repräsentation und die Konkretisierung des Unbewussten. Er verbinde über Archetypen und Mythen den Menschen mit dem Tod und der ganzen bereits gewesenen Welt. Gegen das Werden habe C. G. Jung, so Puglisi, eine «Maschine gegen die Zeit» projektiert.

In seinem Refugium zelebrierte C. G. Jung einen frugalen Lebensstil: «Ich habe auf Elektrizität verzichtet und heize selber Herd und Ofen», steht in seinen «Erinnerungen». «Abends zünde ich die alten Lampen an. Es gibt auch kein fliessendes Wasser, ich muss das Wasser selber pumpen. Ich hacke das Holz und koche das Essen. Diese einfachen Dinge machen den Menschen einfach; und wie schwer ist es, einfach zu sein!» Im Alter verbrachte C. G. Jung in Bollingen etwa die Hälfte des Jahres, arbeitete und ruhte sich aus. «Ohne meine Erde hätte mein Werk nicht entstehen können», meinte er. Bis ins hohe Alter fand Jung Entspannung beim Holzhacken, Umgraben, Pflanzen und Ernten. In früheren Jahren war er leidenschaftlicher Segler gewesen und jedem Wassersport zugetan.

Im Sommer ist C. G. Jungs Bau von der Landseite her praktisch unsichtbar, auch besitzt er keine Zufahrt. Nur im Winter, wenn die Bäume ringsherum kein Laub tragen, tritt die Baumasse klar in Erscheinung. (Foto: Manuel Pestalozzi)
Ein interessantes Ausflugsziel für Architekt*innen

Heute ist das Bauwerk im privaten Besitz der C. G. Jung-Stiftung. Sie kümmert sich mit der ehrenamtlichen Unterstützung der Nachkommen Jungs um den Unterhalt des Baudenkmals sowie des gesamten Geländes. «Der Turm ist somit nicht der Natur überlassen, sondern wird vor allem in den Sommermonaten rege genutzt», erklärt Charlotta Jung, Präsidentin C. G. Jung-Stiftung, auf Anfrage. Wie zu Zeiten von C. G. Jung gebe es keine Elektrizität und nur Quellwasser. Man sei bestrebt, den Turm so ursprünglich wie möglich zu erhalten. In diesem Sinn kann das Gebäude nun als Gedächtnisstätte bezeichnet werden. 

Da es keine Zufahrt hat und praktisch nur vom See her sichtbar ist, hält es Neugierige und Interessierte auf Distanz. Doch die Stiftung bietet im Frühling und Herbst Führungen an. Bisher interessieren sich laut Charlotta Jung vor allem Menschen für das Bauwerk, die sich vertieft mit dem Leben und Wirken Jungs befassen. Sie kämen von überall her angereist, hauptsächlich aus Europa, den Vereinigten Staaten und Südamerika. Eine Diaserie über das Gebäude aus dem Jahr 1995 ist auf e-pics, der Bilddatenbank der ETH Zürich, abrufbar. Eine Besichtigung der aussergewöhnlichen Anlage lohnt indes ganz besonders auch für Architekt*innen.

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