Die Frau zwischen Rollenstereotypen und Geschichte

Nadia Bendinelli
15. Juli 2021
Illustration: Nadia Bendinelli

Im November dieses Jahres wird die erweiterte Neuausgabe von Daniele Muscionicos Buch «Starke Schweizer Frauen» [1] erscheinen. Darin zu finden sind kurze und doch aufschlussreiche Biografien von dreissig Frauen. Alle waren herausragende Persönlichkeiten, doch die meisten sind heute beinahe in Vergessenheit geraten. Jeder kennt wohl beispielsweise Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) und weiss um seine Tätigkeit als Kinder-Wohltäter – wem aber ist bekannt, dass Marie-Anne Calame (1775–1834) Vergleichbares geleistet hat, sogar mit grösserem Erfolg? Klarer könnte es zwischen den Zeilen nicht stehen: Obwohl die im Buch vorgestellten Frauen herausragende Fähigkeiten besassen und ihr Können vielfach unter Beweis stellten, galten sie doch als minder und ihren männlichen Kollegen unterlegen. Die Männer, aber auch die meisten Frauen ihrer Zeit hatten eine klare Vorstellung davon, was eine adäquate weibliche Rolle sei. Wer aus diesem Käfig ausbrechen wollte, musste mit grossen Schwierigkeiten und boshaften Verurteilungen rechnen, wenn nicht gar mit Entmündigung oder einem Aufenthalt in der Psychiatrie. 

Im Buch sind zahlreiche Glaubenssätze zu finden, die halfen Frauen auf einer niedrigeren gesellschaftlichen Stufe zu halten. «Mannsweib!» schimpfte die berühmte Heidi-Erfinderin Johanna Spyri ihre Nichte Emilie Kempin-Spyri (1853–1901), weil diese Anwältin werden wollte. Sie meinte, der «Hausstand» sei «der einzig würdige Wirkungskreis der Frau». Natürlich war auch Emilies Vater gegen studierende Frauen. Er schrieb in der Neuen Zürcher Zeitung, die Hormone seien «ein Instabilitätsfaktor für jedes öffentliche Amt» und protestierte damit entschieden gegen weibliche Lehrkräfte. Emilie heiratete einen Mann, der – wie konnte es anders sein – dem Vater nicht in den Kram passte. Er verweigerte deswegen die Mitgift. Doch Emilie fand mit ihren Plänen bei ihrer neu gegründeten Familie die nötige Unterstützung: Mit 31 Jahren und als Mutter von drei Kindern trat sie ihr lange erträumtes Jurastudium an, das sie mit magna cum laude abschloss. Ihre Geschichte hatte dennoch kein Happyend: Die nötige Zulassung, um in der Schweiz auch tatsächlich praktizieren zu können, blieb aus – erst drei Jahre vor ihrem Tod erlaubte der Kanton Zürich Frauen, als Anwältin zu praktizieren. Erfolgreich wurde Emilie dafür vorübergehend in New York. Dort kämpfte sie für eine Women’s Low Class, die 1890 tatsächlich ihren Startschuss feierte. Doch Emilies Familie kehrte nach Zürich zurück, und als ihr Sohn erkrankte, kam sie nach. Zurück in der Schweiz folgte ein Unglück auf das andere, bis Emilie, inzwischen 45-jährig, arbeitslos und somit lästig, entmündigt wurde und in der Psychiatrischen Klinik Basel vergessen ging.

«Warum will es eine unbedingt den Männern gleichtun? […] Von der sittlichen Gefährdung ganz zu schweigen» – so empörten sich verschiedene Zeitungen, als bekannt wurde, dass Marie Heim-Vögtlin (1845–1916), eine Schweizer Frau!, Medizin studieren wollte. Inspiriert von der Russin Nadeschda Suslowa, der ersten Frau, die im deutschsprachigen Raum, genauer gesagt in Zürich, ein Medizinstudium abschloss, und geleitet von ihrem resoluten Charakter, fühlte sich Marie vom Widerstand sogar ermutigt. Sie kämpfte weiter. Anders als ihre Zeitgenossin Emilie Kempin-Spyri wurde sie dabei von ihrem Vater unterstützt, der über die Jahre unzählige Einwilligungen unterschrieb: Ja, sie darf das Studium antreten, ja, auch an den Examen teilnehmen und ja, sie darf die Zulassung für ihre Praxis beantragen. Der frischgebackenen Gynäkologin stand jetzt nichts mehr im Wege. Oder doch? Sie vertiefte ihre Kenntnisse in Leipzig – als einzige Frau unter Tausenden von Studenten. Die Professoren waren gezwungen, sie in den Hörsaal zu geleiten. Nur so liess sich das Auspfeifen durch die Kommilitonen unterbinden. Später eröffnete Marie Heim-Vögtlin eine eigene Praxis in Zürich, bekam Kinder und wurde Mitbegründerin des ersten Schweizer Frauenspitals. Darüber hinaus engagierte sie sich für Arme und die Lösung sozialer Fragen.

Foto: Nadia Bendinelli
Ist heute alles besser?

Die spannenden Porträts im Buch erzählen von Erfolg und Niederlage, Stolz und Verzweiflung. Die Schicksale der Protagonistinnen sind sehr unterschiedlich. Konstant zeigt sich aber immer wieder die vorurteilsbeladene Wahrnehmung der Frau als minderwertiges Wesen. Zwischen uns und den vorgestellten Frauen liegen einige Jahrzehnte, teils sogar Jahrhunderte. Heute können Frauen wählen, gewählt werden, studieren und arbeiten – alles ganz ohne dafür um Erlaubnis bitten zu müssen. Das ist der Arbeit und dem Mut vieler Menschen zu verdanken – und schon für sich ein riesiger Erfolg. Wie steht es aber um Rollenstereotypen? Halten sich sexistische Klischees? Nun, schaut man genau hin, hat sich leider nicht viel geändert. Die Vorurteile sind allgegenwärtig: Sie hat Kinder und ist berufstätig? Das muss eine schlechte Mutter sein! Technik? Das weibliche Gehirn ist nicht dafür geschaffen. Nur harmlose Äusserungen? Nicht unbedingt. Noch immer halten Glaubenssätze und sexistische Klischees Frauen in einer schwachen Position. Interessant ist dabei, dass beide Geschlechter dazu beitragen – fast wie zu Johanna Spyris Zeiten. Verblüffend gestrig ist auch die Haltung einiger Medien in der Berichterstattung. Für Gewalttaten gegen Frauen liefern sie nach wie vor gerne mildernde Umstände: Sie sei betrunken gewesen, lesen wir dann oder, dass sie aufreizend gekleidet war; im Endeffekt also doch auch ein wenig selber schuld. Es wird geschätzt, dass hierzulande nur 20 Prozent der Gewalttaten gegen Frauen überhaupt gemeldet werden. Trotz nachvollziehbarer Hemmung und Scheu bleibt die beunruhigende Frage offen, ob dies auch mit einer Art resignierter Inkaufnahme zu tun hat, weil «so ist halt das Leben mancher Frauen». Die Wortwahl – nicht nur in den Medien – ist aufschlussreich. Wie oft haben wir Sprüche wie «Die würde ich auch noch flachlegen» oder das Gegenteil davon schon in der Cafeteria, online oder im Fernsehen gehört oder gelesen? Die machohafte Vorstellung dabei: «Ich, Mann, kann über sie verfügen und sie benutzen wie ich will». Eigentlich wäre diese Idee fast amüsant: Auch die meisten Männer wissen, dass schlussendlich die Frau entscheidet. In der Realität aber führt diese Haltung nicht selten zu Gewalt und Übergriffen.

Foto: Nadia Bendinelli
Woher kommen Rollenstereotypen?

Doch wo liegt eigentlich der Ursprung der Geringschätzung der Frau? Darüber zerbrechen sich viele Expertinnen den Kopf, und ganz unterschiedliche Theorien wurden schon entwickelt. Historikerinnen suchen in verschiedenen geschichtlichen Epochen nach Wurzeln. Eva Cantarella, Professorin für Gesetz im alten Rom und Griechenland, hat eine Erklärung in ihrem Fachgebiet gesucht und das Buch «Gli inganni di Pandora» [2] geschrieben. Darin beschäftigt sie sich speziell der Gesellschaft des antiken Griechenland. Ihr Ziel ist dabei nicht, allgemeingültige Aussage zu destillieren, sondern vielmehr einzelne Aspekt zu beleuchten. So zum Beispiel den Pandora-Mythos: Oft als «die griechische Eva» bezeichnet, hatte diese erste Frau eine wesentlich andere Funktion als die biblische Figur: Sie wurde den Menschen als Strafe geschickt. Sie war auch nicht wie Eva vom Mann abgeleitet, sondern aus einer nichtmenschlichen Materie konstruiert. Von jedem Gott und jeder Göttin bekam Pandora ein Geschenk: anmutiges Aussehen, verzehrende Begierde, freches Gemüt, Ambiguität, ein Herz voller Lügen und die Gabe, andere mit Worten in die Irre zu führen. Mit ihrem Erscheinen wurde die Menschheit zum ersten Mal unglücklich. 

Auch die Medizin prägte Stereotypen, wie Eva Cantarella herausarbeitet. Zu Hippokrates Zeiten [3] war es noch nicht üblich, Körper zu Forschungszwecken zu sezieren. Das meiste Wissen stammte daher aus Beobachtungen. Die daraus entwickelten Theorien mögen heute abenteuerlich anmuten, sind aber für unsere Frage interessant – eine insbesondere. Sie betrifft die «Missetaten» des Uterus, die von den alten Griechen sehr ernst genommen wurden. Er könne, so glaubten sie, im Körper herumwandern und die Funktion anderer Organe stören. Allerlei Symptome wurden so erklärt. Die Lösung fiel dann unterschiedlich aus: War die Patientin Jungfrau, musste sie schleunigst verheiratet werden. Einmal schwanger, blieb der Uterus an seinem Platz. War die Frau verwitwet, versuchte man vorerst die Gebärmutter mittels Wein, wohlriechender Ausräucherung des Organs und der Darreichung eines wasserlösenden Trunks in die richtige Position zu bringen. Doch besser wäre, meinten die Ärzte, würde auch diese Frau schleunigst verheiratet und schwanger werden. Leider schloss diese Lösung nicht alle Probleme aus: Bekam das Organ nicht genügend Feuchtigkeit durch regelmässigen Geschlechtsverkehr, trocknete es aus und fing wieder an zu wandern, um anderen Organen Feuchtigkeit zu entziehen. Es konnte sich am Herz oder an der Lunge andocken, manchmal gelangte es bis zum Gehirn. Auch dem versuchte man mit stark riechenden Substanzen beizukommen. Und in besonders schlimmen Fällen konnte die Frau über Nacht an den Füssen aufgehängt werden. Übrigens: Bis heute ist die Schulmedizin männerzentriert. Gemäss einer Schweizer Studie müssen Frauen zum Beispiel deutlich kränker sein als gleichaltrige Männer, um intensivmedizinische Behandlung zu erhalten.

Foto: Nadia Bendinelli

Neben Religion und Medizin war laut Eva Cantarella auch die Philosophie prägend. Ausgehend von biologischen Aspekten war im antiken Griechenland ganz klar, dass «anders» dasselbe wie «unterlegen» bedeutet. Die Unterlegenheit lag schliesslich klar zutage: Der weibliche Körper ist schwächer und somit für eine führende Rolle nicht geeignet. Die Frau musste also geführt werden. Sie sollte im Haus bleiben, dieses verwalten und sich um die Kleinkinder kümmern. Die Erziehung der Jungen indes war Sache eines Mannes. Die Mädchen verheiratete man möglichst rasch. Ferner waren die Geschenke an Pandora stets mit der Essenz aller Frauen verbunden. Man traute ihnen nicht – und zugleich traute man ihnen nicht viel zu. Doch nicht alle grossen Denker Griechenlands waren damit einverstanden: Einige Philosophen stellten diese extreme Unterlegenheit infrage, auch wenn sie nicht von einer echten Gleichheit ausgingen. Zuletzt sorgte das athenische Gesetz dafür, dass all die Theorien in eine ziemlich brutale und stark diskriminierende Regelung des Alltags mündeten. 

Heute steckt der Samen der Diskriminierung oft in nur scheinbar belanglosen Alltagslappalien – und noch immer wird alles mit denselben alten Stereotypen untermauert. Spielt ein Bub mit einer Barbie, wäre keine Empörung notwendig. Vielleicht geht er seinen Interessen als künftiger Modedesigner nach. Oder banaler: Vielleicht erforscht er spielerisch Begegnungen, Gespräche und Alltäglichkeiten. Möchte ein Mädchen Eishockey spielen, wird es nicht weniger weiblich oder gar ein «Mannsweib». Die Geschichte beweist, dass sich heute vieles verbessert hat. Will man aber erreichen, dass in den Köpfen von Männern und Frauen die Geschlechter sowohl biologisch unterschiedlich als auch wirklich gleichwertig sind, bleibt noch sehr viel Arbeit zu erledigen. Bücher wie «Starke Schweizer Frauen» sind eine schöne Gelegenheit, um nachzudenken und die Schweiz und ihre Bewohner heute aufgrund von gestern zu verstehen. Und nicht zuletzt sind die Texte von Daniele Muscionico immer ein Genuss. 

 



[1] Die erste Ausgabe des Buchs erschien 2011. Sie entstand aus einer Artikelserie in der Weltwoche, die in den Jahren 2010 und 2011 publiziert wurde.
[2] Das Buch ist nicht nur auf Italienisch, sondern auch auf Englisch erhältlich.
[3] Um 460 vor Christus geboren, gilt Hippokrates heute als Begründer der wissenschaftlich orientierten Medizin. Er war ein Zeitgenosse von Sokrates, der wiederum als einer der relevantesten westlichen Philosophen angesehen wird. Sokrates stellte die absolute Unterlegenheit der Frau infrage – zumindest teilweise.

Starke Schweizer Frauen. 30 Porträts

Starke Schweizer Frauen. 30 Porträts
Daniele Muscionico

200 Seiten
30 Illustrationen
Gebunden
ISBN 9783039260188
Limmat Verlag

Frauengeschichte(n)

Frauengeschichte(n)
Elisabeth Joris, Heidi Witzig und Anja Suter (Hrsg.)

620 Seiten
Broschur
ISBN 9783039260164
Limmat Verlag
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