Der Garten ist eine Welt im Kleinformat

Susanna Koeberle
22. Juni 2023
Blick in den ersten Raum der Ausstellung «Garden Futures: Designing with Nature» im Vitra Design Museum (Foto: Ludger Paffrath © Vitra Design Museum)

Gibt es mehr als eine Zukunft? Grammatikalisch gesehen sieht die deutsche Sprache für das Wort Zukunft keinen Plural vor. Rein gedanklich betrachtet kann es allerdings durchaus Zukünfte geben. Dass der Begriff Zukunft eben nicht zwingend eine monolithische Vision widerspiegeln muss, sondern auch einen pluralistischen Möglichkeitsraum benennt, suggeriert der Titel «Garden Futures. Designing with Nature». Die Ausstellung im Vitra Design Museum fächert den Begriff Garten breit auf und schafft damit einen multiperspektivischen Blick auf diese uralte kulturelle Praxis. 

Beginnen wir bei den Ursprüngen (im Plural) dieses Konzepts, etwa beim Garten Eden, der in der abendländischen Kultur auch Paradies genannt wird. Der Ursprung des Wortes Paradies erlaubt Rückschlüsse auf einen bestimmten Aspekt des Gartens, der sein Verständnis stark geprägt hat; dieses stammt aus dem Persischen und bezeichnete eine eingezäunte Fläche. Die Idee lebt im lateinischen Begriff des Hortus conclusus (geschlossener Garten) weiter, der auch in der Geschichte der Kunst ein wichtiges Motiv ist. 

Am Anfang des Gartens stehen gleichsam mehrere Vorstellungen: zum einen diejenige einer Ab- oder Ausgrenzung, die positiv ausgedrückt auch als Zufluchtsort gelesen werden kann, und zum anderen diejenige eines Verlusts. Denn wie wir wissen, wurden die ersten Menschen, Adam und Eva, aus dem Paradies verbannt. Diese Vertreibung steht zugleich für den Anfang der menschlichen Beherrschung des Planeten Erde. Kann man das positiv ausdrücken und vom Beginn der Kultur sprechen? Na ja … Immerhin birgt die Idee des Gartens auf dem Planeten Erde durchaus auch optimistisches Gedankengut. 

Der Garten steht in mehrfacher Hinsicht für ein Modell, das Ideengeschichte und damit auch Gesellschaft, Politik und Kultur reflektiert; er repräsentiert gleichsam die ganze Welt. Das sah auch der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984) so: Der Garten als kleinste Parzelle, als eingegrenzter Ort eben, gehört für ihn zu den sogenannten «Heterotopien», Gegenwelten zu den Zentralorten des Alltags. Der Garten ist aber nicht nur eine Utopie, er ist ein ganz konkreter Ort. Diese aktive und handlungsorientierte Perspektive manifestiert sich in einer ähnlichen Idee, nämlich im «jardin planétaire» (planetarischer Garten) des französischen Gärtnerphilosophen und Landschaftsarchitekten Gilles Clément (*1943). Genau diese Bandbreite von Ideen durch physische Exponate aufzuzeigen, ist auch das Ziel der Ausstellung im Vitra Design Museum. 

Blick vom dritten in den zweiten Raum der Schau «Garden Futures: Designing with Nature». Die Szenografie stammt vom italienischen Designstudio Formafantasma. (Foto: Ludger Paffrath © Vitra Design Museum)

Zum Auftakt treffen Besucher*innen auf eine Medieninstallation mit 50 Bildern und 25 Zitaten – ein Panoptikum, das die praktischen, symbolischen und philosophisch-religiösen Bedeutungen des Gartens vorführt und auf das Thema einstimmt. Dass mit dem italienischen Designstudio Formafantasma so hochkarätige und erfahrene Gestalter für die Szenografie beauftragt wurden, erweist sich als Glücksfall. Komplexe Inhalte so zu gliedern, dass sie für alle zugänglich sind, ist eine Kunst, die Andrea Trimarchi und Simone Farresin bestens beherrschen. Der erste Raum bietet mit einer grossen Sitzlandschaft nicht nur die Möglichkeit eines Ankommens in diesem grünen Universum, sondern auch genügend Zeit, um sich mit den Ideen des Kurator*innenteams vertraut zu machen. 

Nebst der erwähnten Projektionsfläche mit wechselnden Bildern und Texten startet die Schau mit der Präsentation von ganz konkreten Objekten, also Designobjekten. Das macht Sinn, schliesslich befinden wir uns in einem Designmuseum. Diese materiellen Artefakte verdeutlichen, wie sich Ideen und Konzepte des Gartens in der Entwurfspraxis von Designer*innen niederschlagen. Wie wir dieses Gelände beackern – die Ansammlung von Gartenwerkzeugen hat fast etwas von einer Kunstinstallation – oder wie wir uns darin bewegen und uns dort niederlassen, sagt etwas über die jeweilige Bedeutung des Gartens aus: Er ist etwa ein Ort des privilegierten Sichzurücklehnens, der Erholung also; oder ein Ort der Zähmung der Wildnis; oder auch des Sorgetragens. Schon im ersten Raum zeigen sich seine Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit.

Eine Frau liest auf dem Altorfer-Liegestuhl, dem sogenannten Spaghetti-Stuhl aus dem Jahr 1949. (Foto: © Embru-Werke AG)

Gärten sind aber nicht nur private Rückzugsorte, sondern spielen auch im öffentlichen Raum eine wichtige Rolle. Wie wir mit Pflanzen umgehen, ist zudem Abbild unseres Weltverständnisses; im Zuge der Kolonialisierung kamen viele Gewächse aus anderen Teilen der Welt nach Europa. Dies war dank der Erfindung des sogenannten Wardschen Kastens möglich. Der Londoner Arzt und Amateur-Forscher Nathaniel Ward (1791–1868) fand heraus, dass Pflanzen in Glasbehältern besser überleben können. Für den Transport über weite Strecken baute er stabile Holzkisten mit Glaseinsätzen. Dies war der Beginn des globalen Pflanzenhandels, wobei dieser wirtschaftliche Begriff verschleiert, dass damit oftmals der lokalen indigenen Bevölkerung Gewalt angetan wurde. Diese Zeit markiert nämlich auch den Beginn der Plantagen der Kolonialmächte; damit ging eine Ausbeutung einher, die bis heute anhält. 

Eine solche Kontextualisierung von historischen Gartenkonzepten ist umso wichtiger, als die fortschreitende Globalisierung die Pflanzenmigration vorangetrieben hat und diese Veränderungen häufig das lokale Gleichgewicht stören können – Stichwort invasive Neophyten. Aber auch Gewächse, die scheinbar zu unseren Habitaten gehören – Tomaten, Kartoffeln oder Geranien etwa –, stammen ursprünglich von weit her. Die Frage ist also, wie wir mit der Pflanzenvielfalt umgehen wollen: Ob wir die Geschenke der Natur schamlos vermarkten, wie das die Agrarindustrie tut, oder die Biodiversität schützen. Diesbezüglich könnten wir gerade von indigenen Kulturtechniken viel lernen. Die grossen Konzerne, die den Saatgut- und Lebensmittel-Markt beherrschen, haben allerdings wenig Interesse an derlei Lektionen.

Im Vordergrund ist ein historisches Exemplar eines Wardschen Kastens zu sehen. Pflanzen konnten darin erstmals über weite Strecken transportiert werden. (Foto: Ludger Paffrath © Vitra Design Museum)

Der Garten war schon immer auch ein politischer Ort, ein Hort etwa des zivilen Ungehorsams und des Widerstands. Das zeigt die Geschichte der amerikanischen Künstlerin und Aktivistin Liz Christy (1950–1985), die in der Lower East Side von New York in den 1970er-Jahren die Green-Guerillas-Bewegung mitbegründete; auf sie geht die Erfindung der Samenbombe zurück. Der Stadtgarten wurde zum Bild für lokales Handeln und für soziale Gerechtigkeit. Diese Form des Gärtnerns war im wahrsten Sinne des Wortes radikal (von lateinisch Wort «radix» für Wurzel). Die Bewegung dieser frühen Gartenpionier*innen hatte weitreichende Folgen, deren Spuren bis in die Schweiz reichen; man denke etwa an den stadtbekannten Zürcher Guerilla-Gärtner Maurice Maggi. Urbane Gärten und «Grünzeug» in der Stadt sind mehr als ein Nice-to-Have und eine trendige Hipster-Betätigung, sie können tatsächlich zu einem besseren Klima beitragen.

Liz Christy in einem ihrer Gärten an der Lower East Side, New York City, USA, 1975 (Foto: © Donald Loggins)

Wie Gärten zu Modellen für Veränderungen werden können, zeigen neun wegweisende Beispiele von Gärten im dritten Teil der Ausstellung. Berührend und berückend etwa ist der Garten, den der englische Künstler und Filmemacher Derek Jarman (1942–1994) im Angesicht seines Todes anlegte. In einer Kieslandschaft an der südenglischen Küste unweit eines Atomkraftwerks erschuf er ein blühendes Gesamtkunstwerk, eine Art Memento Mori und eine Ode an das Leben. 

Auch aktuelle Beispiele, die im letzten Raum präsentiert werden, machen deutlich, dass Gärten eben Prozesse sind und keine abgeschlossenen Gegenstände. «Garden Futures. Designing with Nature» stimmt so gesehen zuversichtlich. Denn die Idee des Hortus conclusus, die auch die Zähmung der Natur beinhaltet, bröckelt immer mehr. Wir sind noch weit davon entfernt, kollektive und politische Lösungen für die drängenden Probleme unserer Zeit gefunden zu haben, doch jeder Garten versinnbildlicht einen Samen, der aufgehen könnte. 

Im besten Fall können auch solche Ausstellungen zu aktivem Handeln anregen. Sie halten zwar nur einen momentanen Zustand fest, aber dieser verändert sich mit jedem Tag, muss sich verändern. Wenn wir den Planeten nämlich nicht als grossen Garten sehen, dem es Sorge zu tragen gilt, haben wir ein Problem. In den Garten Eden können wir jedenfalls nicht mehr zurückkehren.

Derek Jarmans Prospect Cottage, Dungeness, Kent, Grossbritannien, entworfen ab 1986 (Foto: Howard Sooley, 1993)
Garden Futures: Designing with Nature

Garden Futures: Designing with Nature
Vitra Design Museum, Wüstenrot Stiftung (Hrsg.)

240 x 285 Millimeter
228 Seiten
180 Illustrationen
Hardcover mit Leinenband
ISBN 978-3-945852-52-1
Vitra Design Museum
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