Bauen für eine Gesellschaft im Wandel

Manuel Pestalozzi, Elias Baumgarten
6. Dezember 2023
Foto: Elias Baumgarten

Die Jahre zwischen 1975 und 2000 waren eine widersprüchliche und ungemein spannende Epoche, eine Zeit zwischen aufkommendem Umweltbewusstsein und ausufernder Konsumkultur, eine Zeit auch geprägt von gesellschaftlichem Wandel. 1975 besetzten 15'000 Atomkraftgegner das Gelände des geplanten Kernkraftwerks Kaiseraugst, und 1983 zogen die Grünen in den Nationalrat ein. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 brachte die Debatte um den Umweltschutz endgültig in die Mitte der Gesellschaft. Die Zürcher Stadträtin und einstige Vorsteherin des Hochbaudepartements, Ursula Koch, sprach schon 1988 einen Satz aus, der genauso auch heute fallen könnte: «Die Stadt ist gebaut. Sie muss nicht neu-, sondern umgebaut werden.» Gleichzeitig war das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts aber auch eine Hochzeit des Konsums und der Wegwerfgesellschaft. Billigprodukte aus Asien überfluteten den Markt, die Moden wechselten schnell, Shoppen wurde zur Freizeitbeschäftigung. Selbst die Ölkrise, die die Hochkonjunktur abwürgte, änderte dies nicht dauerhaft.

Die Bauten aus jener Zeit sind heute kaum erforscht, nur wenige tauchen bisher in Schutzinventaren auf. Dabei sind sie baugeschichtlich sehr interessant: Nicht nur, dass sich das wachsende Bewusstsein für die voranschreitende Umweltzerstörung und die Ölkrise, die verheerend auf die private Immobilienwirtschaft wirkte, in ihnen widerspiegeln. Auch verlangten die gesellschaftlichen Umbrüche der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre nach einer neuen Architektursprache. In den 1970er-Jahren entwickelte sich eine neue Ausdrucksweise, historische Bauelemente wurden nunmehr spielerisch zitiert und kräftige Farben hielten Einzug in die Architektur. Im Tessin entwickelte sich parallel eine eigene Schule, deren typische Merkmale ausdrucksstarke Formen und eine genaue Analyse des Ortes waren. In den 1980er-Jahren dann entstanden mit der «Analogen Architektur» und einem neuen Minimalismus zwei entgegengesetzte Strömungen.

Foto: Elias Baumgarten

Diese Vorgänge widerspiegeln die 50 Bauten, die in einem neuen Büchlein der Serie des Schweizer Heimatschutzes im Postkartenformat dokumentiert sind. Die Bauwerke werden jeweils mit zwei Bildern und einem kurzen Beschreibungstext präsentiert, der immer in zwei Landessprachen vorliegt. Ein griffiger Kurztext, der auf Deutsch, Französisch und Italienisch abgedruckt ist, erklärt die wichtigsten gesellschaftlichen und baukulturellen Themen der Zeit zwischen 1975 und 2000. Das verbessert und erleichtert das Verständnis der gezeigten Bauten. Nebenbei bemerkt ist es wohltuend, mit welcher Selbstverständlichkeit die Sprachen nebeneinanderstehen – ganz ohne irgendeine englische Version.

Foto: Elias Baumgarten

In stilistischer Hinsicht lassen sich die Bauten schwerlich auf einen Nenner bringen. Das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts war eben auch eine Zeit des «Anything Goes». Gewiss ist, dass die schön gestaltete Publikation Gebäude umfasst, die inzwischen als Glanzleistungen der Schweizer Architektur kanonisiert sind – Peter Zumthors famose Therme in Vals etwa, Mario Bottas Chiesa di San Giovanni Battista in Mogno oder die Umgestaltung des Castelgrande in Bellinzona von Aurelio Galfetti. Auch Anlagen, die aufgrund der Haltung und Herangehensweise der Architekten richtungsweisend und nach wie vor inspirierend sind, finden sich im Buch – zum Beispiel Luigi Snozzis Arbeit für Monte Carasso.

Architektur bedeutete in jener Zeit oft Auffallen, individuelle Entfaltung und Profilierung, für die Architekt*innen ebenso wie für die Auftraggeber*innen. Auch davon erzählt «Die schönsten Bauten 1975–2000». Ein Aspekt der Wahlfreiheit war allerdings, dass sich Talente nicht an diesem «Fegefeuer der Eitelkeiten» beteiligen mussten, sondern sich auch mit sozial engagierter Architektur einen Namen machen konnten, insbesondere im Wohnbereich. 

Foto: Elias Baumgarten

Die baukulturellen Errungenschaften der Zeit zwischen 1975 und 2000 bräuchten mehr Aufmerksamkeit, findet der Schweizer Heimatschutz. Dieser Meinung können wir uns nur anschliessen. Zumal viele Bauwerke aus dieser Epoche inzwischen überholt werden müssen oder im Sinne des Klimaschutzes erhalten und umgebaut werden sollen. Darum kommt das Büchlein genau zur rechten Zeit.

 

Die schönsten Bauten 1975–2000

Die schönsten Bauten 1975–2000
Regula Steinmann und Patrick Schoeck-Ritschard
Texte in deutscher, italienischer und französischer Sprache

148 x 105 Millimeter
120 Seiten
100 Illustrationen
Broschiert
ISBN 978-3-907209-12-7
Schweizer Heimatschutz
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