Ein Monument in Buchform für ein aussergewöhnliches Bauwerk

Elias Baumgarten
21. September 2023
Foto: Elias Baumgarten

Auf der Suche nach einem neuen Heim stiess eine junge Familie auf ein seit Jahren leerstehendes Haus oberhalb von Küsnacht am Zürichsee. Zunächst bot das zarte, kleinmassstäbliche Bauwerk keinen sonderlich einladenden Anblick: Verloren stand es an einer hässlichen, lauten Strasse und machte einen etwas vernachlässigten Eindruck. Und doch ging von ihm eine grosse Anziehungskraft aus. Es wirkte überhaupt nicht altbacken oder aus der Zeit gefallen. Die Kaufinteressenten lernten bald, dass sie ein Juwel der Schweizer Architekturgeschichte vor sich hatten: das Haus «Obere Schiedhalde» von Lux Guyer (1894–1955), der ersten selbstständigen Architektin des Landes. Die mutige Gestalterin hatte es 1929 gebaut und zeitweilig selbst bewohnt. Der Entwurf des Backsteinbaus beruhte auf ihrem berühmten SAFFA-Haus, das sie 1928 zur ersten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) entworfen hatte. Dieser Holzbau, aus dem Lux Guyer später noch weitere Wohnhäuser ableitete, gilt heute als Pionierleistung und eine ihrer besten Arbeiten.

Schliesslich beschloss die Familie, in das aussergewöhnliche Haus zu ziehen und es sorgfältig renovieren zu lassen – ein mutiger Schritt, der das wichtige Baudenkmal für die nächsten Generationen sichert. Mit der Sanierung beauftragte sie Christ & Gantenbein, die ihr Geschichtsbewusstsein auch bei der Restaurierung des Westflügels des Zürcher Landesmuseums bewiesen haben, und Sven Richter.

Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten

Mittlerweile sind die Arbeiten an Lux Guyers Schlüsselwerk abgeschlossen. Und nicht nur das: Gemeinsam mit dem bekannten Grafiker Ludovic Balland, der im Architekturbereich schon für Peter Zumthor und Herzog & de Meuron gearbeitet hat, haben die Architekten ein wunderbares Buch über das Haus herausgegeben. Die Baumonografie begeistert mit Bildstrecken zu den Themen «Innen, Aussen», «Der Garten», «Begegnung im Haus», «Möbel und Farbe, Materialien» und «(Re)Konstruktion». Über 270 Fotografien von Balland und Hans-Jörg Walter sowie etliche Originalpläne und historische Aufnahmen lassen das Architektenherz höherschlagen. 

Doch das Buch ist kein reiner Bildband. Im hinteren Teil finden sich einige kompakte, angenehm zu lesende Texte über die Sanierung und Lux Guyers zeitlose Architektur. Hier erfährt man zum Beispiel, dass die Architekten ein Team aus Expert*innen der Bereiche Landschaftsarchitektur, Bauforschung, Möbeldesign, Textilgestaltung und Farbexpertise zusammenstellten, um der herausfordernden Bauaufgabe gerecht zu werden. Diese Fachleute kommen denn auch zu Wort und ordnen das Projekt aus ihrer jeweiligen Perspektive ein. Interessant ist beispielsweise, dass mit die grössten Veränderungen im Garten vorgenommen wurden. Das Haus wurde durch eine zwei Meter hohe Mauer von der besagten Strasse getrennt. Den Aussenraum gestalteten August und Margrith Künzel sodann neu, und zwar so, dass er der ursprünglichen räumlichen Konzeption Lux Guyers wieder entspricht. Für die Architektin gehörten Innen- und Aussenraum nämlich fest zusammen. Haus und Garten bildeten einst eine Einheit: Alle Zimmer fanden in den unterschiedlichen Aussenräumen eine optische und oft auch funktionale Fortsetzung, wie Emanuel Christ, Christoph Gantenbein und Sven Richter im Buch erklären.

Foto: Elias Baumgarten
Foto: Elias Baumgarten

Manche Bücher, die wir in der Vergangenheit vorgestellt haben, lobten wir für ihren Inhalt, doch kritisierten gleichzeitig ihre Gestaltung, ihre teils stieren Layouts und ihre zuweilen ungepflegte Typografie. «Lux Guyer – Obere Schiedhalde» hingegen überzeugt dank der Arbeit von Ludovic Balland und Annina Schepping mit Rhythmus und Abwechslung, jede Doppelseite gefällt aufs Neue. Und mehr noch: Durch einige gestalterische Kniffe weckt das Buch Erinnerungen an die 1920er-Jahre. Zugleich wirkt es frisch und modern. So gelingt es, die Zeitlosigkeit, die Lux Guyers Bauten auszeichnet, auch auf der Ebene der Buchgestaltung zu transportieren. Die Baumonografie erscheint als Fortsetzung der Architektur.

Foto: Elias Baumgarten
Lux Guyer – Obere Schiedhalde

Lux Guyer – Obere Schiedhalde
Ludovic Balland, Emanuel Christ, Christoph Gantenbein und Sven Richter (Hrsg.)

245 x 325 Millimeter
208 Seiten
348 Illustrationen
Gebunden
ISBN 978-3-03860-253-8
Park Books
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