Identitäten bauen

Susanna Koeberle
3. Februar 2017
Besucher der E.A.T. in Zuoz. Bild: E.A.T

Die Engadin Art Talks entstanden 2010 auf Initiative von Verlegerin und Sammlerin Christina Bechtler (die Familie Bechtler ist seit 1996 Inhaberin des Hotels Castell in Zuoz), Hans Ulrich Obrist (Direktor der Serpentine Gallery in London und Kurator) sowie Beatrix Ruf (ehemalige Direktorin der Kunsthalle Zürich, seit 2014 Leiterin des Stedelijk Museums in Amsterdam und heute nicht mehr bei den E.A.T. dabei). Die Initiatoren der E.A.T. hatten die Idee, Fachleute aus den unterschiedlichsten Disziplinen (Kunst, Architektur, Wissenschaft, Literatur, Design) nach Zuoz einzuladen, um an einem zweitägigen Symposium über aktuelle Fragen mit Bezug zur Bergwelt zu debattieren. Die Tagung ist für alle Interessierten offen und erfreut sich seit seiner Gründung wachsender Beliebtheit. Die sechste Ausgabe fand letztes Wochenende statt und stand unter dem Motto «Snow and Desert».

Die Vortragenden umkreisten das vorgegebene Thema geschickt und verstanden es, vielfältige Aspekte dieses Gegensatzpaars zu beleuchten. Man konnte an diesem Wochenende etwas über das Navigationssystem von Wüstenameisen erfahren, über künstlerische Projekte im antarktischen Eis und in der Wüste oder geopolitische Fragen zu diesem Themenfeld. Hier knüpften die beiden geladenen Architekten, Manuel Herz (Basel) und Diébédo Francis Kéré (Berlin), an.

Manuel Herz. Bild: E.A.T

Herz sprach über das Volk der Sahrawi in der Westsahara, das von Marokko ins Exil gezwungen wurde und seit 40 Jahren in provisorischen Lagern lebt. Während das Wort Lager Zelte und Elend evoziert, fand Herz bei seinem Besuch eine gut funktionierende und organisierte Gemeinschaft (der Staat Westsahara wurde 1976 ausgerufen) vor, die ihren provisorischen Status als Form des Widerstands lebt. Interessant ist dabei die Rolle der Architektur. Aufgrund der Sachlage würde man Bauten mit rein temporärem Charakter erwarten. Obwohl die Sahrawis ein nomadisches Volk sind und auch die Wohnform des Zeltes kennen, haben die Menschen der Westsahara auch «richtige» Häuser gebaut wie Schulen, ein Parlament, verschiedene Ministerien und Wohnhäuser. Gerade die ornamentale Dekoration vieler Bauten verleiht ihnen einen eigenständigen architektonischen Ausdruck. «Die Gleichzeitigkeit von temporären und permanenten Bauten hat mich beeindruck», sagt Herz. Das bewog ihn dazu, an der letzten Architekturbiennale von Venedig für den Staat der Westsahara einen eigenen Pavillon zu entwerfen. Wir haben berichtet

Sein Entwurf nimmt die Ambivalenz zwischen Temporarität und Permanenz auf. Mit dem «nationalen Pavillon» entsteht für die Exilregierung die Möglichkeit, anderen Staaten auf Augenhöhe zu begegnen und einen Diskurs zu initiieren. Die zeltförmige Konstruktion war aus Aluminium, im Innern befanden sich Teppiche mit Landkarten und Bauten, die von Frauen der National Union of Sahrawi gewoben worden waren. Ein Projekt bietet nun vier dieser Teppiche zum Verkauf an; mit dem Erlös soll ein kulturelles Zentrum gebaut werden. Während eine politische Lösung noch aussteht, haben die Sahrawis für ihre Lebensform eine architektonische Antwort gefunden. Paradoxerweise ist diese zugleich auch ein Hindernis für eine definitive Lösung des Staates.

Diébédo Francis Kéré. Bild: E.A.T.

Der aus Burkina Faso stammende Berliner Architekt Francis Kéré berichtete über das Operndorf, ein faszinierendes Projekt, das er zusammen mit dem Theaterregisseur Christoph Schlingensief (1960–2010) in seinem Heimatland (einem der ärmsten Länder auf der Welt) realisiert hat. Die Zusammenarbeit mit einem Künstler empfand er als sehr inspirierend. Während er als Architekt häufig skeptisch war, wagte Schlingensief bei der Realisierung dieses verrückten Unterfangens immer das Unmögliche.

Beide Vorträge zeigten die Rolle der Architektur in einem extremen Kontext auf, die dabei weit über eine reine Entwicklungshilfe hinausgeht, sondern von der Kraft der Kreativität getrieben, Bauwerke als eine existentielle Form menschlichen Ausdrucks versteht.

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